Ferien vom Ich
immer nur auf die Zeit gerechnet werden kann, die ihren langen Geduldfaden spinnt. Die stehen dann wie verloren und verzürnt in dem lustigen Ferienheim vom Ich, werden zuerst auf einsame Posten geschickt, wo ihnen kein lauter Ton wehe tut, aber wo eine kleine, feste Pflicht sie aufrechthält, und steigen, wenn die Lebenssehnsucht wieder erwacht, Stufe um Stufe ins Tal zurück.
Die »krummbeinige Medizin«
Meine Kurmittel sind nicht ganz gewöhnlicher Art. Es gibt Ärzte, die den Sitz alles Übels im Magen suchen; andere begeistern sich für die Leber; wieder andere schwören auf warme Füße; ganz alte bequeme Knaben geben immer zum Schwitzen ein oder verordnen immer Laxiermittel; wieder andere sagen, außer mit Chinin, Digitalis und Quecksilber sei überhaupt nichts anzufangen; diese werden von den Wasserdoktoren »Giftmischer« genannt, und alle werden von den Homöopathen verachtet. Ich misch’ mich da nicht ein; ich sage: ihr habt alle recht, und der, der am wenigsten tut, tut am meisten. Meine Kuranstalt »Ferien vom Ich« ist etwas Neues, und es sind auch meine Kurverordnungen teilweise sehr neu. So habe ich in der kurzen Zeit meiner hiesigen Praxis meinen Patienten in einundfünfzig Fällen die Anschaffung eines Dackels verordnet. Der Dackelhund als Heilmittel ist in der medizinischen Wissenschaft gewißlich ein Novum, aber er ist gleichzeitig - das kühne Bild ist in Tagebuchaufzeichnungen erlaubt - nichts anderes als ein Ei des Kolumbus. Ich habe selbst seit Jahren einen Dackelhund (in Amerika drüben nennen sie ihn german dog), er heißt »Spezi«, weil er mir in der Tat ein Spezialfreund geworden ist, und ich kenne die gesundheitsfördernden und erziehlichen Werte seiner Gegenwart zu gut, als daß ich in meiner Nächstenliebe nicht auch andern das Glück eines solchen Besitzes gönnen sollte. Eine wissenschaftliche Arbeit schreibe ich ja hier nicht; nur eine Tagebuchplauderei. Aber ich will eine erweiterte Abschrift dieses Kapitels meinen Kollegen geben, die ein wenig die Nase über den »Chef« rümpfen, der so viele »krummbeinige Medizin« verordnet, daß neulich sechsundzwanzig Dackel auf dem Lindenplatze eine Art Generalversammlung abhielten und greulichen Unfug verübten. (Dr. Fritzen hat mir damals gekündigt mit der Begründung, daß er ein ernst zu nehmender Arzt sei, und ich habe ihn ohne Trauer ziehen lassen. Hol der Fuchs alle Spießer, die nur ihr Schuleinmaleins ableiern können!)
Einen Dackel verordne ich zunächst demjenigen, bei dem ich als Pfahlwurzel seiner Leiden zu große Eigenliebe erkenne.
Die gewöhnt ihm der Hund alsbald gründlich ab. Kein noch so eingefleischter Nietzscheaner behauptet auf die Dauer seinem Dackel gegenüber die »Herrchen«-Natur. Das »Herrchen« ist der Dachs; da kann einer dagegen tun, was er will; es nutzt alles nichts. Zum Beispiel! Der Philosoph, in schwere Gedanken versunken, strebt auf seinem Abendspaziergang gen Westen. Der begleitende Dackel - einen Igel er-schnuppernd - biegt gen Süden ab. Der Philosoph wird sich anfangs um den kläffenden Köter ganz und gar nicht kümmern; aber dann wird er pfeifen - einmal, zweimal, dreimal leise - dann laut, immer lauter rufen, drohen, die Fäuste ballen, toben, aus seiner schweren Gedankenbahn geschleudert werden, umkehren, gen Süden wallen und Betrachtungen darüber anstellen, ob nun ein Dachshund oder ein Igel das widerborstigere Tier sei. Der notgedrungene Gleitflug aus der luftarmen Höhe eisigen Denkens ist durch einen Dackel ertrotzt. Gut so - in den Ferien vom Ich!
Oder ein Misanthrop. Sitzt der da in dem ganzen Katzenjammer seines elenden Weltschmerzes, und sein Dachshund setzt sich ihm gegenüber mit der ungeheuerlichen Leidensmiene seiner durchtriebenen Viehvisage: die Stirn in hundert Runzeln, die Ohren hängend, den Schwanz melancholisch eingeklemmt, die Augen verdreht und die Stimme leise jaulend, wimmernd, stöhnend, so wird der Misanthrop dieses Jammerbild nicht lange ertragen, mit dem Vieh auf die Straße flüchten und sich nicht schlecht wundern, daß der scheinheilige Jämmerling plötzlich wie ein Berserker der Lebenslust umherrast. Etwas abfärben wird es schon. Das nächste Mal, wenn er und der Dachs so trübselig einander gegenübersitzen, wird sich der Misanthrop selbst nicht recht trauen und auf die Straße gehen.
Der alten Jungfer, die sich ihr Leben lang nach einem Manne gesehnt und keinen bekommen hat, verordne ich einen Dackel. Dann hat sie endlich den ersehnten Tyrannen, den
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