Fern wie Sommerwind
durch, trinke einen Schluck Tee und schnäuze mir viel zu laut die Nase.
Wir zucken zusammen, als es an der Tür klingelt. Ich sehe Irmi an und sie nickt mir zu. Alles okay, nichts passiert, und trotzdem fühle ich, dass das erst der Anfang von etwas war.
Vor der Tür wartet Ruth mit einer ganz anderen Energie – mit nervöser Verliebtheit nämlich –, und das lenkt mich für den Moment ab. Vor allem muss ich jetzt nicht alleine sein, mit meinen Gedanken an diese seltsamen Situation da eben in der Küche.
»Danke Nora, danke, danke, danke! Ich weiß gar nicht, wie oft ich das sagen soll!« Ruth fällt mir um den Hals.
»Wow! Was hab ich gemacht? Sag schon, sag schon, sag schon!« Ich lasse mich von Ruths Freude anstecken und hüpfe mit ihr durch den Vorgarten.
»Machst du Witze? Rocco ist gestern Nacht noch bei mir vorbeigekommen.« Sie grinst von einem Ohr zum anderen und ihre Augen glänzen, als hätte sie Fieber.
»Das ging aber schnell!« Da bin ich platt. Dass Rocco ein Draufgänger ist, habe ich mir schon denken können, aber Ruth?
»Nicht so! Nein. Er ist gestern noch an mein Fenster gekommen, hat Steinchen dagegen geworfen. Ist das zu glauben? Ich kam mir vor wie in einem Film. Ich meine, wer wirft im echten Leben Steinchen ans Fenster? Und dann stand er da, mit seinem zerschrammten Gesicht. Gott, der ist so süß!« Ruth bekommt so einen verklärten Gesichtsausdruck.
»Du bist ja schwer verknallt!« Ich lache und freue mich wirklich für sie.
»Aber wenn du mich gestern nicht mitgeschickt hättest in die Ambulanz, dann wäre alles ganz anders gekommen, dann wäre nichts von alldem passiert!« Sie umarmt mich wieder überschwänglich und drückt mir die Luft ab.
»Aber was ist denn nun passiert?« Ich überlege, ob es vielleicht gut wäre, Ruth eine Runde zu schütteln, bevor sie explodiert, aber dann lasse ich das lieber bleiben, denn möglicherweise explodiert sie vom Schütteln erst recht.
»Na ja, ach, eigentlich ist nicht so viel passiert. Aber er stand da unter meinem Fenster, in Mondlicht getaucht wie so ein Romeo! Ich meine, ich hab echt Angst bekommen, weil ich dachte, das ist doch jetzt ein Klischee, ein abgegriffenes Klischee, das träumst du nur. Das denkst du dir nur aus. Aber dann … Er stand wirklich da und er sagte ›Danke‹ und grinste.«
»Und du?«
»Ich? Ich sagte ›Bitte‹.«
Ich reiße die Augen weit auf und warte, ob da noch was kommt. Aber da kommt nichts mehr.
»Das war’s!« Ruths Augen glänzen.
»Na, das ist doch aber immerhin ein Anfang.«
»Ist mir egal. Und wenn es das Ende ist. Das war großartig.«
Ruth nimmt meine Hand und wir laufen ein Stück so zusammen, laufen durch das Gartentor und dann in eine kleine ruhige Gasse. Ich freue mich für Ruth, aber ein klein wenig Neid ist auch dabei. Nicht wegen Rocco, aber wegen dem Gefühl, wegen diesem Verrücktspielen. Das hatte ich lange nicht mehr. Nicht mal bei Ben.
Vor einem Jahr das letzte Mal, da war ich wirklich verknallt, in meinen neuen Mathelehrer. Ausgerechnet! Wo ich Mathe noch nie ausstehen konnte. Aber Herr Hoffmann hatte einen Drei-Tage-Bart und Haare, die ihm vor die Augen fielen, und eine Stimme, mit der er besser beim Radio gearbeitet hätte, als Mathe zu unterrichten. Natürlich hatte Herr Hoffmann eine Frau, eine mit langen roten Haaren, schwarzer Lederjacke und Skinny-Jeans. So eine wirklich coole, dass ich mir also keine Illusionen machen brauchte, er wäre unglücklich mit ihr. Trotzdem konnte ich das Herzklopfen nicht unterdrücken, und auch nicht die Träume, die sich nachts anschlichen, sexuelle Träume, davon wie Herr Hoffmann mir heimlich in der Schule näherkommt. Oh Mann, und ich konnte darüber nicht einmal mit jemanden reden.
Und dann wurde seine Frau schwanger und er ging in Elternzeit und das schmerzte – aber mit jedem Tag etwas weniger, und nach drei Monaten konnte ich mich nicht mal mehr richtig an sein Gesicht erinnern. Seitdem hatte mein Herz nicht mehr in dieser Art geklopft, und sexuelle Träume hatte ich nur noch mit Seriendarstellern, aber das zählt nicht. Und das mit Ben war eher so eine Notlösung gewesen. Er tauchte plötzlich auf und fand mich gut, und weil ich dachte, dass es vielleicht Zeit wäre für einen Freund, ließ ich mich darauf ein. Aber er merkte schnell, dass ich nicht das war, was er sich erhofft hatte, und ließ mich fallen. Wir hatten nur zwei Mal miteinander geschlafen.
»Sag mir jedenfalls, wenn es etwas gibt, womit ich mich bei dir
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