Fern wie Sommerwind
mehr als ein paar blaue Flecken und kleinere Platzwunden sind, die sein schönes Gesicht entstellen.
Ruth fährt mit ihrer Hand über Roccos Rücken und lächelt. Irgendetwas ist anders zwischen ihnen, seit sie in der Ambulanz zwei Stunden nebeneinander auf harten Plastikstühlen gesessen haben.
Eine halbe Stunde später rauchen wir vor der Pizzeria noch eine letzte Zigarette miteinander, eine Nelkenzigarette, die Roccos Stiefvater aus Indonesien mitgebracht hat. Und schließlich einigen wir uns noch darauf, am nächsten Abend zusammen die Dorfdisco zu besuchen, um uns mal ordentlich zu betrinken.
»Gute Nacht, ihr Lieben.« Ruth macht den Anfang und die anderen folgen.
Ich sehe Martin noch ein letztes Mal an und frage, ob alles wieder okay ist zwischen uns. Er winkt nur ab, fragt: »War da was?«, und umarmt mich zum Abschied.
»WARUM NIMMST DU eigentlich diese Tabletten?«, fragt Irmi am Frühstückstisch, als sie mich dabei beobachtet, wie ich zwei Paracetamol aus der Verpackung drücke und sie mit Orangesaft runterspüle.
»Sonst kommen wieder so Kopfschmerzen«, antworte ich und stopfe lustlos ein bisschen Toast hinterher.
»Kommen?«, hakt Irmi nach.
»Sie sind noch nicht da, aber ich fühle, dass sie bald kommen werden«, erkläre ich etwas unwillig.
»Hm«, sagt Irmi nur. Dann schüttelt sie ganz leicht den Kopf und sieht mich mit so einem bohrenden Blick an, dass ich sofort anfange, unruhig auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen.
Ich halte es nicht lange so aus und schließlich frage ich: »Das findest du komisch, Irmi?«
»Ich finde so einiges komisch, das weißt du doch.«
Ich glaube, Irmi provoziert mich. Eigentlich könnte es mir ja egal sein, wie lange kenne ich sie schon? Was weiß sie schon von meinen Kopfschmerzen?
»Na gut, also wenn du es genau wissen willst. Ich finde es wirklich komisch«, sagt Irmi und lächelt sanft, um keinen Streit daraus zu machen.
Bei Mama und mir hätte es an dieser Stelle sofort gekracht, wahrscheinlich wäre ich einfach vom Tisch aufgestanden und hätte womöglich noch mit der Tür geknallt. Das mache ich hier nicht. Ich bin schließlich Gast.
»Also ich fahre ganz gut damit, jeden zweiten Tag ein paar Tabletten zu schlucken, statt mich immer mit den Schmerzen zu quälen.« Jetzt rechtfertige ich mich, obwohl ich das eigentlich nicht wollte.
»Jeden zweiten Tag? Du meine Güte!« Irmi fasst sich an den Kopf.
»Das ist Migräne. Das liegt in der Familie.« Ich merke, wie langsam Wut in mir aufsteigt.
»Weißt du, woher Kopfschmerzen kommen?« Irmi beugt sich über den Tisch, als wolle sie ein Geheimnis mit mir teilen, aber ich weiche aus, lehne mich in meinem Stuhl zurück.
Irmi bemerkt das und setzt sich wieder auf ihren Stuhl, streicht ihren Rock glatt. »Kopfschmerzen kommen von Kopfzerbrechen. Sich um alles und jeden Gedanken machen und sorgen. Sich unter Druck setzen. Alles immer richtig machen wollen. Nicht frei sein … mit sich selbst.«
Eso-Scheiß. Das ist das Erste, was mir dazu durch den Kopf schießt. Wobei ich das natürlich nicht ausspreche, dazu habe ich zu viel Respekt vor Irmi. Und nachdem ich Eso-Scheiß zu Ende gedacht habe, kommt mir noch der zweite Gedanke: dass nämlich das, was Irmi gesagt hat, hundert Prozent auf mich zutrifft. Aber auch das sage ich nicht. In erster Linie deshalb, weil es mich enorm erschreckt, wie sehr es doch auf der Hand liegt, und wie wenig ich es selbst bisher gesehen habe.
Die Tabletten liegen mir plötzlich schwer im Magen.
Ich überlege, ins Bad zu gehen und sie wieder zu erbrechen, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen. Als wäre ich am Stuhl festgewachsen. Als würde ich plötzlich ganz schwer werden, doppelt so schwer wie ich in Wirklichkeit bin. Als würde der Kopf etwas anderes wollen als der Körper.
Irmi räumt den Tisch ab und setzt Tee auf. Irgend so ein Kräuterzeug. Hexenzeug. Eso-Zeug.
Und da passiert es einfach, ich kann gar nicht glauben, dass es wirklich passiert, aber wie ich auf diesem Stuhl sitze, schwer wie ein Elefant, rollen plötzlich Tränen aus meinen Augen. Rollen von den Wangen herab, fallen auf meine graue Hose und lassen runde nasse Flecke zurück.
»Das ist ja kein Weltuntergang«, flüstert Irmi und reicht mir eine Tasse mit Eso-Tee. Sie sieht, dass ich weine, verliert aber kein Wort darüber, stattdessen legt sie ihre faltige, warme Hand auf meine Schulter und bleibt einfach eine Weile neben mir stehen.
Die Tränen versiegen langsam. Ich atme noch ein paar Mal
Weitere Kostenlose Bücher