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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrycja Spychalski
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Tassen bemalt, Körbe geflochten, Socken gestrickt, Pilze zum Trocknen auf den heißen Steinen ausgebreitet. Einmal in der Woche fährt die Gruppe auf den Markt, um die Sachen zu verkaufen oder gegen andere Dinge zu tauschen wie Toilettenpapier, Seife, Schokolade, Streichhölzer und so Zeug. Milch, Käse und Honig bekommen sie beim benachbarten Bauern.
    Mehr braucht es nicht. Das ist erstaunlich, findet Nora. Und sie bleibt eine Weile bei der Gruppe, über zwei Monate.
    Sie geht dann schließlich schweren Herzens doch, zum einen, weil sie sich selbst versprochen hat, die halbe Welt zu erkunden, und zum anderen, weil sie ihren Flieger nach Amerika schon vor einer Weile gebucht hat und sie ihn unmöglich verpassen darf.
    Im Flugzeug überfallen sie Gedanken von Heimatlosigkeit und der Wehmut, dass sie die vielen Menschen immer nur oberflächlich kennenlernt. Und was passiert, wenn sie krank wird? Wer wird sich dann um sie kümmern? Und überhaupt ist es ein Scheißgefühl, wenn man sich immer nur auf sich selbst verlassen kann.
    Aber dann, als sie in L. A. aus dem Flieger steigt und mit dem Taxi Richtung Innenstadt fährt, da erwacht wieder ihr Entdeckergeist, und sie stürzt sich rein in diese laute Stadt voller Smog und voller irrationaler Verheißungen. Und wenn sie krank wird, dann geht sie eben zum Doktor! Doctor Gary oder Doctor McFly oder sonstwem.
    »Wow, das ging aber schnell!«, ruft Martin Rocco zu, der bei Ruth untergehakt und humpelnd auf unseren Tisch zusteuert.
    »Lasst euch von meinem Aussehen bloß nicht täuschen, der Doktor sagt, ich sehe bald wieder so blendend aus wie immer!« Er setzt sich auf seinen Platz in der Mitte der Bank. Wir haben hier alle unsere Plätze, das hatte sich von Anfang an so ergeben.
    Ruth und ich wechseln Blicke und ein verschwörerisches Grinsen.
    Dario spendiert eine Pizza und weitere Getränke und setzt sich kurz zu uns. Er begutachtet Roccos Gesicht und schüttelt den Kopf. »Nicht gut, Alter.«
    Rocco wirft einen Blick zu dem Tisch der Bockwurstjungs. »Ich würde sagen, das hat sich erledigt mit diesen Nervensägen. Den Kampf um das Stammlokal haben wir gewonnen!« Er reißt die Arme in die Luft.
    »Du bist nicht sauer?«, frage ich verwundert.
    »Und wie!«, antwortet Rocco. »Aber die haben auf ihrem Karmakonto ordentlich Minuspunkte gesammelt. Das kommt zurück. Wart’s nur ab.«
    Karmakonto. Davon habe ich schon öfter gehört. Ob es das wirklich gibt? Es gibt Menschen, die leben tatsächlich nach diesem Karmaprinzip.
    Ich denke darüber nach, wie viele Plus- oder Minuspunkte ich auf so einem Konto haben dürfte.
    Minuspunkte für: Mama belügen. Über Mitschüler lästern. BHs bei H&M klauen. Mit Jungs flirten, die ich eigentlich nicht toll finde, nur um das eigene Selbstbewusstsein aufzuwerten. Oma zu Weihnachten nur deshalb anzurufen, damit sie sich an mich erinnert und einen Umschlag mit hundert Euro schickt. Spinnen töten, weil es schneller geht, als sie in Gläser zu fangen und rauszutragen.
    Pluspunkte für: Jedem Straßenmusiker, der mir über den Weg läuft, einen Euro geben. Winnie, die Waisenkatze voller Flöhe, bei mir aufnehmen und Mama so lange bearbeiten, bis sie endlich einwilligt, sie zu behalten und die Tierarztrechnungen zu zahlen. Und außerdem …
    Tja.
    Mehr fällt mir erst mal nicht ein.
    Das ist eine schlechte Bilanz. »Meinst du dieses Karmakonto existiert? Also für jeden?«
    »Aber klar!« Rocco verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln und versucht, mit seinem geschwollenen Auge zu zwinkern, was irgendwie sehr komisch aussieht.
    Verdammt! Ich werde mich anstrengen müssen! Ich werde dieses blöde Konto mit Pluspunkten auffüllen müssen. Möglichst schnell. Vielleicht kann ich gleich damit anfangen, indem ich Irmis Haus putze. Von oben bis unten. Das gibt bestimmt fünf Pluspunkte.
    »Außerdem, ich sehe das so: Diese Dreckskerle haben gesagt, sie wollen mir meine schöne Visage einschlagen … Ich glaube, die sind alle verknallt in mich und regen sich selbst furchtbar darüber auf, weil sie herausgefunden haben, dass sie in Wirklichkeit schwul sind, und sich dafür hassen, na und so weiter. Im Prinzip können sie nichts dafür, die armen kleinen Häschen.«
    »Das ist eine furchtbar bescheuerte Theorie«, meint James, und Ruth stimmt dem zu.
    Aber Rocco wirkt damit so zufrieden, dass wir ihn gar nicht vom Gegenteil überzeugen wollen.
    Ich bin froh, dass er wieder da ist, dass es ihm besser geht und dass es letztendlich nicht

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