Fern wie Sommerwind
summen. Sie wirkt vergnügt. Ich werde ein wenig schauspielern müssen, sie soll nicht merken, dass ich mich gestern betrunken habe und jetzt einen Kater habe.
Gegen die Fahne putze ich mir gründlich die Zähne, kippe mir dann kaltes Wasser ins Gesicht und lasse es auch über meine Arme laufen. Eine Weile sitze ich auf dem Badewannenrand und reibe mir die Wangen, damit sie ein wenig Farbe bekommen. Dann gehe ich runter zum Frühstück.
»Guten Morgen, meine Liebe«, sagt Irmi mit mir zugewandtem Rücken und rührt eifrig in einer großen Schüssel.
Auf meinem Platz steht bereits eine Tasse mit frisch dampfendem Kaffee. »Guten Morgen.« Ich setze mich an den Tisch und nehme einen kleinen Schluck.
»Bist du noch böse auf mich?« Irmi dreht sich zu mir um und neigt den Kopf zur Seite.
»Böse?«, frage ich verwundert.
Sie hebt die Riesenschüssel von der Arbeitsplatte, bringt sie zum Tisch und stellt sie schnaufend in der Mitte ab.
»Heidelbeerquark. Selbst gerührt!« Sie füllt eine Portion davon in ein kleines Schälchen und stellt es vor mich hin. »Probier mal.«
Ich nehme vorsichtig den Löffel in den Mund. Eigentlich ist mir gar nicht nach Essen, aber ich kann vor Irmi unmöglich zugeben, dass ich einen Kater habe. Ich beiße auf eine saftige Heidelbeere, und der Geschmack, der sich in meinem Mund entfaltet, wirft mich mindestens zehn Jahre zurück, in die Zeit, als meine Oma noch lebte und für mich Hefegebäck machte, mit Heidelbeerfüllung und warmer Vanillesoße.
Das waren immer Nachmittage voller Geborgenheit, mit Feuer im Ofen und Kartenspielen am großen Holztisch. Oma war etwas verwirrt, aber immer liebevoll und mit einem merkwürdigen Humor, wo ich fünf Mal überlegen musste, ob etwas als Witz oder ernst gemeint war. Aber das war auch lustig, dieses ständige Rätseln. Manchmal fiel es mir schwer zu glauben, dass Oma die Mutter von Mama war. Sie waren so verschieden. Oma so warm und Mama so kalt.
Bei Omas Beerdigung weinte ich viel, Mama gar nicht, sie biss sich dafür die Lippen blutig. Und in diesem Moment begriff ich zum ersten Mal, dass jeder für sich alleine ist. Man kann zusammen essen und reden, Monopoly spielen und ins Kino gehen, vielleicht sogar vertraut sein, aber wenn es darauf ankommt, wenn es wirklich essenziell und beängstigend wird, dann ist man allein. Immer. Allein mit seinen Tränen und seinen blutigen Lippen.
»Ich würde dir heute gerne ein bisschen zur Hand gehen, Irmi«, schlage ich vor – natürlich immer noch ein wenig mit dem Gedanken ans Karmakonto, aber auch, weil Irmis Heidelbeeren mich an Oma erinnert haben.
Irmi strahlt, tänzelt zum Kühlschrank und öffnet ihn. Die Fächer sind vollgestopft mit frischem Obst. Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren und Walderdbeeren. »Dann lass uns heute zusammen Marmelade kochen.«
Ich habe noch nie Marmelade gekocht. Für solche Sachen hat man irgendwie nie die Zeit, zumal es bei Edeka Marmelade für zwei Euro gibt. Ein Mal im Jahr fahre ich mit Papa aufs Land zum Erdbeerpflücken. Wir nehmen uns immer vor, etwas daraus herzustellen, aber dann essen wir eine frische Erdbeere nach der anderen, klecksen Sahne drüber oder tun Vanilleeis dazu, und am Abend bleibt nur noch eine kleine Schüssel übrig, die wir für Papas Freundin in den Kühlschrank stellen.
»Ich würde sehr gern bei dir Marmelade kochen lernen, Irmi.«
Dieses Irmi geht mir immer leichter von den Lippen. Mittlerweile scheint es mir sogar absurd, sie Frau Mertens zu nennen. Viel zu unpersönlich für die kleine Dame mit den hochgezogenen Fältchen, dem lieben Lächeln und den Blumen am Strohhut. Eigentlich ist sie viel mehr ein alt gewordenes Mädchen.
»Und wenn du mich vorher noch für ein Stündchen zum Strand runter begleiten würdest, wäre ich überglücklich«, sagt sie und bindet sich die Schürze ab.
Als wir beide das Haus verlassen, hakt sich Irmi bei mir unter. Sie ist etwas unsicher auf den Beinen. Zu Hause nicht, aber hier draußen auf dem unebenen Bürgersteig schon, wo man ab und zu anderen Menschen Platz machen muss und wo die Kinder einem vor die Füße rennen, weil sie ihren bunten Ball einfangen wollen.
Irmi erzählt mir, dass sie nicht oft rausgeht. Nur auf ihre Veranda, selbst der Garten sei manchmal schon ganz schön anstrengend. Aber das Meer, das liebt sie und hat es viel zu lange nicht mehr gesehen.
Wir erreichen den Sandstrand. Irmi bleibt feierlich stehen und atmet ganz tief ein, als wolle sie die gesamte Ostseeluft in
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