Fern wie Sommerwind
ihre Lungen aufsaugen.
Ich helfe ihr dabei, ihre Schuhe auszuziehen, damit sie den Sand voll auskosten kann. Wir laufen langsam, der erste Baumstamm, der aus den Dünen ragt, wird von Irmi dankbar als Sitzgelegenheit wahrgenommen. Ich wollte gerne etwas weiter laufen, weg von den Menschenmassen, weg von potenziellen Beinspannern. Ich ziehe vorsichtshalber die Kapuze meiner Strickjacke über den Kopf, damit mich der Typ im Zweifelsfall nicht erkennt.
Irmi knetet ihre Hände und schaut versunken auf das Wasser. Ich habe den Eindruck, dass sie nicht sprechen möchte. Einfach nur sitzen und auf das Meer starren, sich von den Wellen hypnotisieren lassen, in eine andere Welt abtauchen. Wohin bloß? Wohin taucht Irmi wohl ab? Mir fällt auf, dass Irmi nie ihre Familie erwähnt hat. Oder einen Mann. Ob sie alleine ist?
Mir wird klar, dass ich ständig nur über mich und mein Leben nachgdacht habe. Aber ich weiß auch nicht, ob ich Irmi einfach so fragen kann? Wer weiß, was für Wunden man damit aufreißt?
»Mama, Mama! Steh auf! Mein Fußballspiel! Ich kann meine Schuhe nicht finden!«
Nora öffnet die Augen. Warum ausgerechnet Fußball? Die vielen Turniere, das ständige Training und die nervigen Eltern, die am Spielfeldrand ihre Kinder anfeuern, meistens anbrüllen und einem ständig diesen unausstehlichen trockenen Kuchen anbieten.
Alle ihre Jungs spielen Fußball. Daniel, Florian und Lukas.
Andererseits kann sie froh sein, dass sie sich bewegen, dass sie sich für etwas interessieren.
Es gibt andere Kinder, gelangweilt, träge, unsympathisch. Solche, die in der Grundschule Schläge austeilen und später dann selber welche kassieren.
»Mama! Du hattest die Schuhe doch in der Waschmaschine gewaschen! Warum sind sie nicht im Trockner?«
Wann ist der richtige Zeitpunkt, ihren Söhnen beizubringen, wie sie selbst die Waschmaschine bedienen und den Trockner? Und dass sie selbst auf ihre Sachen achten müssen.
Seit letzter Woche haben sie mit Stullenschmieren angefangen. Zumindest war das der Plan. Der Ablösungsprozess. Die Jungs sollen sich ihre Schulbrote selber machen. Machen sie nicht. Sie schmeißen Bananen in ihren Rucksack und Corny-Riegel und Fanta Mango.
Das muss Nora aushalten.
»Nimm das nicht so tragisch«, sagt Thomas, ihr Mann, dann und streicht ihr über das Haar.
Nora steht aus dem Bett auf und wirft sich den Bademantel über. Es ist kalt im Haus, der Winter kommt mit festen Schritten. Warum die Jungs jetzt noch draußen spielen müssen, ist ihr auch ein Rätsel, aber der Trainer schwört auf natürliche Abwehrkräfte.
»Guten Morgen, Schatz.« Thomas schaut von seiner Zeitung auf und lächelt.
»Guten Morgen.« Nora gießt sich einen Kaffee ein. »Warum kann Daniel seine Schuhe nicht finden?«
»Er ist etwas chaotisch!«
»Er muss es lernen!«
»Sei nicht so streng mit ihm. Er ist noch klein.«
»Er ist zwölf!«
Nora nimmt sich den Feuilletonteil vom Tisch. Das ist der Teil, den Thomas nie liest. »Wir könnten mal wieder ausgehen abends. Ins Kino vielleicht«, schlägt Nora vor.
»Hm.«
»Ich kann meine Mutter fragen, ob sie auf die Jungs aufpasst. Das macht sie gern.«
»Ja.«
Thomas sagt Ja und später im Kino, da schläft er ein.
Dany, Flo und Lukas stehen in der Tür und drängeln, sie wollen los.
Nora ist noch nicht mal angezogen, sie hat noch nicht einmal gefrühstückt. »Könnt ihr heute ohne mich fahren?«
Die Jungs zucken mit den Schultern.
Thomas sieht sie ein bisschen vorwurfsvoll an, aber Nora flüstert so leise, dass nur er es hört: »Bitte.«
Dann sind sie weg und im Haus ist es still.
Das schlechte Gewissen kommt sofort, krallt sich fest. Sie hätte Thomas damit nicht alleine lassen sollen. Drei Kinder sind kein Pappenstiel.
Sie geht zur Anlage und legt eine CD ein, dreht den Lautstärkeregler nach rechts. Sie macht ein paar Tanzschritte, wirft ihr Haar durch die Luft.
Wow.
Wie lange hat sie das nicht mehr gemacht?
Sie setzt sich auf das Sofa, starrt die Wand an, hört die Musik.
Warum hat sie nie angefangen, ein Instrument zu spielen? Ist es jetzt zu spät dafür? Zu spät jedenfalls, um noch sehr gut darin zu werden. Einen Tanzkurs könnte sie vielleicht noch machen. Alleine. Damit will sie Thomas nicht auf die Nerven gehen. Er würde es ihr zuliebe machen. Aber warum sollte sie das wollen?
Es sind immer Kompromisse. Immer.
Nora steht auf und dreht die Musik wieder leiser. Sie geht ins Bad, putzt sich die Zähne, schminkt sich die Augen, macht sich
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