Fern wie Sommerwind
die Haare. Dann schlüpft sie in ihre Jeans und zieht einen dicken Pullover an, wirft ein Tuch um ihren Hals.
Sie schaut in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel und Führerschein. Alles da. Dann noch einmal einen Blick auf den Herd. Alles aus. Sie schnappt sich den Mantel von der Garderobe, zieht die Wohnungstür hinter sich zu und eilt die Treppe runter.
Wenn sie sich jetzt beeilt und kein Stau ist, dann schafft sie es noch rechtzeitig zum Spiel der Jungs.
Nur diesen scheußlichen Kuchen, den wird sie heute ausschlagen. Zur Not mit der Magen-Darm-Ausrede.
Am späten Nachmittag stehen Irmi und ich in der Küche und kochen Marmelade.
Der Raum versinkt im fruchtigen Duft. In den Töpfen blubbert eine zuckrige Obstmasse, die aussieht wie Lava. Wir hören klassische Musik, Irmi hat sich Bach gewünscht. Ich träufele vorsichtig kleine Mengen Rum in die Töpfe und rühre alles noch einmal um. Die Gläser stehen schon mit heißem Wasser ausgewaschen in einer Reihe. Die Deckel haben wir mit einem goldenen Marker beschriftet.
Irmi dreht die Flammen der Herdplatten aus. Wir nehmen jeweils einen Topf von der Platte und beginnen die Masse in die Gläser zu füllen, vorsichtig, aber zügig. Wir schrauben sie fest zu und drehen sie für fünf Minuten auf den Kopf. Wir füllen etwa dreißig Gläser. Ich stelle die leeren Töpfe in die große Spüle und lasse Wasser drüberlaufen, kippe etwas Spülmittel hinterher und warte, bis das Wasser schaumig über die Ränder läuft.
Dann setze ich mich zu Irmi an den Tisch. Wir begutachten stolz unser Werk. Irmi wirkt erschöpft.
»Das war ein schöner Tag«, sage ich.
»Das stimmt. Und ich danke dir dafür.« Irmi hebt die Lider, als müsste sie sich zwingen, wach zu bleiben. Sie streicht sanft über einige Gläser und wo sie gleich schon dabei ist auch über meinen Rücken. »Ich werde mich einen Moment hinlegen, Liebes«, sagt sie mit schwacher Stimme.
Ich begleite Irmi ins Wohnzimmer zum Sofa, stapele die Kissen so, dass sie es gemütlich hat, decke sie mit einer selbst gemachten Decke zu, gehäkelt oder gestrickt, ich erkenne nie den Unterschied.
»Ich muss mich nur ein wenig ausruhen. Die Füße tun mir weh.« Irmi rollt sich auf dem Sofa zusammen und schließt die Augen.
»Ist gut. Ruh dich aus. Ich mache dir leise Musik an.«
Dann trete ich auf die Veranda. Die Sonne verliert langsam an Kraft. Meine Kopfschmerzen sind weg. Ich habe gar nicht bemerkt, wann sie aufgehört haben. Hatte ich eine Tablette geschluckt vorhin? Nein, hatte ich nicht.
Auf einmal ist mir nach einem spontanen Spaziergang. Ich gehe in die Küche, nehme ein Glas mit Marmelade vom Tisch und stecke es in meine Tasche. Ich schaue noch kurz bei Irmi rein, aber die schläft schon, schnarcht ganz leise.
Ich mache mich auf den Weg. Mein Herz klopft. Ich möchte Martin treffen. Möchte ihn sehen, mit ihm sprechen.
Ich weiß nicht, wo er wohnt, ich hoffe einfach, dass er im Hof des Sanatoriums sitzt und Kinder zeichnet oder nachdenkt oder was auch immer. Hauptsache, er ist da. Wir hängen jetzt schon die ganze Zeit zusammen rum, haben aber nicht mal Nummern ausgetauscht.
Ich bin enttäuscht, als ich ihn dort nicht entdecke. Resigniert setze ich mich auf die Bank, ich kann unmöglich durch den ganzen Ort rennen, um ihn zu suchen.
Stattdessen schaue ich zu den Kindern in ihren Rollstühlen und zu denen, die in den Riesenbällen toben, und denke daran zurück, wie Martin und ich uns darin hin und her geworfen haben. »I love you.« Könnte es wirklich sein, dass er das gesagt hat?
Die behinderten Kinder feiern heute Geburtstag oder irgendein anderes Fest. An ihren Rollstühlen sind Ballons befestigt und einige haben Partyhüte auf. Mit ihren verrenkten Gliedern winken sie sich zu und werfen den Kopf nach hinten, geben Geräusche von sich, wahrscheinlich ein Lachen. Auf einem Tisch ist ein Buffet aufgebaut und eine Betreuerin läuft rum und gießt den Kindern Limo in ihre Becher.
Plötzlich legen sich Hände über meine Augen, warme, sanfte Finger.
»Hey«, sage ich und freue mich sehr über meine gute Intuition. Ich wusste doch, er würde hier sein!
»Hey«, erwidert Martin und setzt sich neben mich.
Wir sehen uns kurz an, dann wieder zu Boden, dann zum Himmel und schließlich zu den Geburtstagskindern.
»Geht’s dir gut?«, fragt Martin.
»Ja.«
»Das ist gut.«
»Ja.«
Wir schweigen.
Ich öffne meine Tasche und hole das Glas Marmelade raus, halte es Martin entgegen. Martin guckt skeptisch,
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