Fern wie Sommerwind
meinem Inneren weicht. Kurz überlege ich, wie es wohl wäre, wenn statt Ruth jetzt Martin hier schwimmen würde – wohin das führen würde und ob das gut wäre, aber dann verscheuche ich diesen Gedanken, es ist ja schließlich Mädchenausflug.
Das Meer ist verhältnismäßig ruhig, und wir können uns entspannt auf das Wasser legen, nur ganz leicht mit den Beinen wackeln und uns treiben lassen. Die untergehende Sonne taucht das Wasser in ein warmes blutrotes Licht.
Mit einem Kribbeln im Bauch kehre ich zurück zum Strand. Ruth folgt mir. Sie wickelt sich in das indische Tuch, während ich mein Shirt dazu benutze, mich abzutrocknen.
»Wow. Das machen wir jetzt öfter!«, ruft Ruth begeistert mit glänzenden Augen. All ihre Skepsis ist verschwunden.
»Hab ich doch gesagt.« Ich freue mich, dass ich sie, die mir immer vorwirft, zu viel über alles nachzudenken, auch mal zu etwas Spontanem überreden konnte.
Wir lassen uns vom lauen Sommerwind zu Ende trocknen. Ich starre wie hypnotisiert auf das Meer, das in der Ferne mit dem Himmel verschmilzt. Ich kann Stunden um Stunden so schauen und mich in diesem magischen Sog verlieren.
»Ich bin froh, dass wir gesprochen haben. Über Rocco meine ich. Ich will immer alles mit mir selbst ausmachen, aber es ist viel leichter, wenn man mit jemandem darüber reden kann. Und du bist ja jetzt wohl eine Freundin. Immerhin hab ich dich schon nackt gesehen.« Ruth knöpft ihre Hose zu und fängt an, das Tuch zusammenzulegen.
Ich greife mir das eine Tuchende und helfe ihr beim Falten. »Ich werde dich echt vermissen.«
»Oh nein, bitte nicht!«, stöhnt sie. »Nur nicht sentimental werden, ja.«
Wir packen unser Zeug zusammen, spülen die Tassen im Meerwasser, schnallen die Rucksäcke auf den Gepäckträger und schieben dann unsere Räder unter Fluchen den steilen Aufgang hoch.
Am Ortseingang verabschieden wir uns voneinander. Ruth muss noch irgendwelche Besorgungen machen, und ich steige vom Rad, um es den restlichen Weg zu schieben. Der Hintern tut mir vom harten Sattel weh, den werde ich definitiv auswechseln müssen. Ich laufe durch Gässchen, die ich bisher noch gar nicht gesehen habe, obwohl der Ort so klein ist. Alte Häuser. Teilweise wunderschön restauriert, teilweise kurz vor dem Abriss mit Schutt und Gestrüpp im Vorgarten. Der Kontrast gefällt mir irgendwie. Ich schaue in die Fenster rein, versuche ein Stück der Inneneinrichtung zu erblicken, um mir ein Bild davon zu machen, wie die Einheimischen hier leben. In vielen Zimmern flackert der Fernseher. Komisch, das Meer zu Füßen und trotzdem schaltet man den Fernseher ein. Seit ich hier bin, habe ich keine Minute ferngesehen.
Aus dem Erdgeschoss eines baufälligen Hauses hört man Musik und viele Stimmen, die durcheinander sprechen, vereinzelt lachen. Ich schiele unauffällig durch das halb geöffnete Fenster. Es scheint eine Galerie zu sein, ein Raum für Kunst oder so etwas wie ein Salon. Alte samtbezogene Sessel stehen in den Ecken neben kleinen Nierentischen, auf denen es aus den Aschenbechern qualmt. An den Wänden hängen Bilder, Skizzen und Collagen. Das Licht ist schummrig. Ein kleines Buffet ist aufgebaut, und daneben steht der Plattenspieler, auf dem sich eine Jazzplatte dreht. Die Leute sitzen oder schlendern umher, sie sehen aus wie eine eingeschworene Gemeinschaft, unterscheiden sich auch von den restlichen Dorfbewohnern. Es ist wieder die Kleidung, natürlich. Es ist vielleicht dumm und oberflächlich, aber an der Kleidung erkennt man zumindest ganz grob seinesgleichen. Später kann man sich dann immer noch vom Gegenteil überzeugen lassen, wenn man unbedingt will, aber der erste Eindruck geht ganz oft über Kleidung. Adidas Sambas oder Chucks, abgewetzte Jeans, T-Shirt. Das ist meine Kleidung. Nur ganz selten werde ich dem untreu und probiere Kleider oder Stoffhosen und Blusen. Und jedes Mal fühle ich mich, als wäre ich eine andere Person, verkleidet. Allein die Beine elegant übereinanderschlagen zu müssen, damit mir keiner in den Schritt gucken kann, kann mir den ganzen Abend verderben.
»Hallo!« Jemand sieht aus dem Fenster der Galerie und winkt mir zu.
Ich fühle mich ertappt beim Beobachten, winke schüchtern zurück, lächle verlegen und gehe möglichst schnell weiter. Manchmal, wenn ich so überrascht werde von Menschen, dann glaube ich immer, man würde mich verarschen wollen, sich einen Witz aus mir machen. Dieses Misstrauen und diese Unsicherheit bringen mich natürlich um viele
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