Ferne Tochter
erstaunt mich.«
»Heute hat sie sich nach langer Zeit mal wieder was zum Schreiben geben lassen.«
»Aber meine Mutter ist rechts vollständig gelähmt. Und sie ist Rechtshänderin.«
»Wenn sie will, schafft sie es, mit links einzelne Wörter zu notieren. Sehr krakelig natürlich.«
Ich könnte ihr Fragen stellen.
»Nutzen Sie die Gelegenheit. Vielleicht will sie Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.«
Wir steigen aus und gehen den Flur entlang. Ich beiße die Zähne zusammen. Die Schmerzen im Fuß sind wieder stärker geworden.
Mutter begrüßt mich mit einem schiefen Lächeln. Sie trägt einen grauen Rock, eine rosafarbene Seidenbluse und eine lange Perlenkette. Darüber ein frisches Lätzchen. Mit ihren straff zurückgekämmten und hochgesteckten Haaren sieht sie aus wie eine Gouvernante. Ihre Handtasche steht griffbereit links neben dem Rollstuhl. Auf ihrem Schoß liegt ein Schreibblock mit einem Stift.
»Sind die nicht schön?«, sagt Tanja Schmidt und stellt die Astern in eine Keramikvase.
Mutter nickt.
»Bis später, Frau Wolf.«
Mutter zeigt auf meinen Fuß. Ihrem einen Auge entgeht nichts.
»Ich habe eine Zerrung. Das Seitentor klemmte, deshalb bin ich ganz blöd nach vorn gefallen.«
Das kann auch nur dir passieren, sagt mir ihre hochgezogene Augenbraue.
Ihre linke Hand berührt meinen Arm. Zwischen Daumen und Zeigefinger reibt sie das Leder meiner Jacke. Sie riecht daran und stößt einen Laut aus, den ich nicht deuten kann.
»Wir hatten schon immer einen unterschiedlichen Geschmack.«
Sie schüttelt den Kopf. Habe ich sie falsch verstanden?
Ich hole mir den Hocker und setze mich an ihre linke Seite.
Sie greift nach dem Stift und schreibt ein zittriges
S.
Ein
C
und ein
H
folgen. Es strengt sie an, sie macht eine Pause.
Ich stelle mir alle möglichen Wörter vor, die mit SCH beginnen, allen voran die abwertenden.
SCHÄBIG
,
SCHEUSSLICH
,
SCHRECKLICH
.
Sie schreibt weiter, ein
I.
Nein, ich muss mich nicht beschimpfen lassen.
Jetzt ist sie fertig.
SCHICK
,
lese ich und bin überrascht.
»Hätte ich nicht gedacht, dass dir so etwas gefällt.«
Sie grinst.
Wir wissen nichts voneinander.
»Im Haus war alles in Ordnung«, sage ich nach einer Weile.
Sie schaut mich prüfend an. Will sie wissen, ob ich ihre Schränke geöffnet habe?
»In den unteren Räumen habt ihr ja viel verändert.«
Sie zeigt auf sich.
»Du hast die neuen Möbel angeschafft?«
Sie nickt stolz.
»Nach Vaters Tod?«
Wieder ein Nicken.
»Hast du dafür das Hinterhaus verkauft?«
Jetzt ist sie überrascht, dass ich die Lage so schnell überblickt habe.
»Oben sollte sicher auch noch alles renoviert werden, oder?«
Ihre Lippen zittern, sie beginnt zu weinen.
»Tut mir leid … Ich wollte dir nicht weh tun.«
Soll ich das Thema wechseln? Ihr von mir erzählen? Von Francesco, meiner Arbeit, meinem Leben in Rom?
Deshalb bin ich nicht gekommen.
»Mutter?«
Sie putzt sich umständlich die Nase und tupft sich die Augen ab.
Ich muss sie fragen. Jetzt oder nie.
»Hat sich … meine Tochter jemals bei euch gemeldet?«
Keine Reaktion. Ihr Gesicht wirkt plötzlich wie eingefroren.
Ich stehe auf und gehe ans Fenster. Es regnet. Die alte Frau von gestern schiebt ihren Rollator vor sich her. Das Wetter scheint ihr nichts auszumachen.
Vielleicht verlangt Mutter gleich ihren Schlüssel zurück. Dann ist es zu spät.
Ich drehe mich um. Sie hat wieder angefangen zu schreiben.
Für ein ›Nein‹ hätte ein Kopfschütteln genügt. Ich zwinge mich, nicht auf sie zuzustürzen und ihr den Block zu entreißen.
Sie braucht lange für das Wort. Ich warte. Wie auf ein Urteil.
Sie blickt hoch und deutet mit dem Kopf auf den Hocker.
Ich setze mich, lese das Wort
ZEUGNISMAPPE
.
»Meine Zeugnismappe?«
Sie nickt.
»Wo finde ich die?«
Sie ist erschöpft. Mehr wird sie heute nicht schreiben können.
»In deinem Schreibtisch?«
Wieder ein Nicken.
»Danke.«
Sie zeigt auf die Tür, macht es mir leicht.
»Bis morgen.«
[home]
11.
I ch humpele am Büro von Frau Grundmann vorbei und beschließe, ihr ein andermal von Mutters Haus zu berichten.
Vielleicht muss ich doch zum Arzt.
Im Auto nehme ich wieder eine Tablette, die dritte seit dem Frühstück.
Mein telefonino klingelt. Ich sehe Francescos Nummer auf dem Display. Soll ich ihn auf die Mailbox sprechen lassen? Nein.
»Hallo?«
»Guten Morgen. Wie geht’s deinem Fuß?«
»Nicht schlecht.« Ich wundere mich, wie überzeugend ich klinge.
»Warst du heute schon bei
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