Ferne Tochter
Ich ertrage den Geruch, die Leere, die Erinnerungen nicht mehr.
Mühsam hangele ich mich die Treppe hinunter, verlasse das Haus, schließe nicht hinter mir ab.
[home]
10.
I ch sitze im Hotelzimmer und kühle meinen Fuß mit Eiswürfeln, die mir die freundliche Kellnerin gebracht hat.
In der Apotheke habe ich mir Schmerztabletten, ein entzündungshemmendes Gel und eine Fußgelenkbandage besorgt. Ich solle so oft wie möglich das Bein hochlegen, meinte die Apothekerin.
Das leere Zimmer geht mir nicht aus dem Sinn. War es für sie ein vergifteter Raum? Mochte Mutter nicht einmal ihren Schreibtisch dort hineinstellen? Oder haben sie ihn frei gehalten, weil sie hofften, dass ich irgendwann zurückkehren würde?
Ich bereue es, dass ich so schnell aufgebrochen bin und nicht noch nach Briefen und Unterlagen gesucht habe. Morgen werde ich wieder hingehen und zur Not auch übermorgen.
Vor mir liegt die Telefonnummer von Antonia Bremer. Es fällt mir schwer, sie anzurufen. Ich wähle trotzdem und warte.
»Hallo?«
»Mein Name ist Judith Velotti. Ich möchte gern Frau Bremer sprechen.«
»Am Apparat.«
Im Hintergrund höre ich Kindergeschrei.
»Die Leiterin des Pflegeheims, in dem meine Mutter liegt, hat mir freundlicherweise Ihre Telefonnummer gegeben. Ich bin die Tochter von Frau Wolf.«
»Wie bitte?«
»Die Nachricht kommt sicher etwas überraschend für Sie.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Ich habe gehört, dass Sie meine Mutter ab und zu besuchen …«
»Ja, und?«
»In dem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, ob wir uns in den nächsten Tagen mal treffen könnten.«
»Ich weiß nicht …«
»Mir wäre sehr daran gelegen, mit Ihnen über meine Mutter zu sprechen.«
»Jetzt auf einmal? Nachdem Sie sich zwanzig Jahre nicht haben blicken lassen?«
Es hat keinen Zweck. Ich sollte auflegen.
»Also gut, meinetwegen«, höre ich Frau Bremer sagen. »Bei mir ginge es morgen Nachmittag um halb vier. Kennen Sie das Café Borchers in Eppendorf?«
»Ja.«
»Ich habe niemanden für die Kinder. Die muss ich mitbringen.«
»Von mir aus gern.«
»Wie ist noch mal Ihr Name?«
»Judith Velotti.«
»Klingt italienisch.«
»Ich lebe in Rom.«
»Da haben Sie’s ja gut getroffen.«
»Bis morgen«, antworte ich und lege auf.
Ich bestelle mir ein Wiener Schnitzel mit Pommes frites und verbringe den Abend mit hochgelegtem Bein vor dem Fernseher. In den Nachrichten geht es um Griechenlands Verschuldung, die außer Kontrolle gerät. Die NATO setzt ihre Angriffe auf Libyen fort. Der deutsche Aktienmarkt hat den Handel mit Verlusten beendet. Es folgt ein Krimi, danach eine Talkshow.
Zwischendurch ruft Francesco an und beglückwünscht mich zu meinen Fortschritten.
»Ich kann kaum laufen.«
»Meinst du, da ist was gebrochen?«
»Ich weiß nicht …«
»Das Hotel kann sicher einen Arzt kommen lassen.«
»Ja …«
»Wenn der Fuß morgen noch so geschwollen ist, musst du ihn röntgen lassen.«
»Ich wünschte, ich wäre zu Hause geblieben.«
Francesco versucht mich aufzumuntern.
Es gelingt ihm nicht.
Eine doppelte Dosis Schmerztabletten lässt mich besser schlafen als erwartet. Ich wache erst um sechs auf. Die Schwellung ist etwas zurückgegangen. Ich habe mir nichts gebrochen. Eine Zerrung. Schlimm genug.
Die Bandage gibt mir Halt.
In der Alsterdorfer Straße finde ich ein Blumengeschäft. Mag Mutter lieber Phlox, Astern oder Dahlien? Habe ich ihr jemals Blumen geschenkt? Ich nehme einen Strauß bunter Astern.
»Sind die für mich?«, ruft der weißbärtige Mann und lacht mich an.
Ich schüttele bedauernd den Kopf.
»Nächstes Mal bringen Sie mir welche mit, versprochen?«
»Kommen Sie«, sagt die Pflegerin mit der grauen Strähne. »Ich besorge Ihnen eine Vase.«
»Wie geht es meiner Mutter?«
»Sie ist etwas aufgeregt. Zum ersten Mal seit Wochen durfte ich ihr einen Rock und eine Bluse anziehen und die Haare hochstecken.«
Mach dich fein, es kommt Besuch.
Wir steigen in den Aufzug. Der Blick der Pflegerin bleibt an meiner braunen Lederjacke hängen. Ich sehe ihr an, was sie denkt: Ganz und gar nicht der Stil von Frau Wolf.
»Mein Name ist übrigens Tanja Schmidt«, höre ich sie sagen. »Ich bin diejenige, die sich in der Regel um Ihre Mutter kümmert.«
»Danke.«
»Sie müssen sich nicht bei mir bedanken. Ich liebe meinen Beruf.«
»Ich könnte das nie …«, murmele ich.
»Man bekommt von den meisten Menschen viel zurück.«
»Auch von meiner Mutter?«
»Ja.«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher