Ferne Tochter
deiner Mutter?«
»Ja, ich habe ihr Blumen gebracht. Sie hat sich gefreut.«
»Siehst du! Wie gut, dass du nach Hamburg gefahren bist.«
Viertel nach elf. Wer weiß, wie lange ich brauche, um die Mappe zu finden.
»Hast du eine Idee, was mit ihrem Haus passieren soll?«
»Nein.«
»Also, ich könnte mir vorstellen …«
»Können wir nachher weiterreden?«, unterbreche ich ihn.
»Was ist denn? Fährst du gerade?«
»Ich bin gleich mit jemandem verabredet, eine Kollegin meiner Mutter, die sie öfter besucht.«
Noch eine Lüge.
»Versprich mir, dass du keine überstürzten Entscheidungen fällst.«
»Bestimmt nicht.«
»Ich vermisse dich.«
»Ich dich auch.«
Mein Mund ist trocken. Soll ich nicht hinfahren? Nicht nach der Mappe suchen?
In Rom hatte ich eine Wahl. Jetzt ist es dafür zu spät.
Ich begegne keinen Nachbarn, das Tor klemmt kaum, ich betrete das Haus und gehe Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt könnte ich schreien.
Was mache ich, wenn sie mich treffen will? Mich anklagt. Mich zum Teufel wünscht.
Im Schlafzimmer ist der Zitronengeruch am stärksten. Ich öffne das Fenster. Die Türen von Mutters Schreibtisch sind verschlossen. Ich ziehe die Schublade auf und suche zwischen Postkarten, Briefpapier, Klarsichthüllen, Büroklammern, Buntstiften, Filzstiften, Wachsmalkreide, Locher, Hefter, Anspitzer, Radiergummi, Klebeband, Tipp-Ex, Tintenfass und Brillen vergeblich nach den Schlüsseln. Meine Hände sind kalt.
Neben dem PC steht ein Drucker, daneben liegen ein paar Schulbücher, ein blauer Kalender für das Unterrichtsjahr 2010 / 11 , ein Notizblock, ein Rechner, ein Bleistift.
Warum hat sie mir nicht aufgeschrieben, wo die Schlüssel sind?
In dem Moment erinnere ich mich an das Fach auf der Rückseite des Schreibtischs. Dort hat Mutter früher Schokolade versteckt.
Ich beuge mich vor, lasse meine Hand in den Spalt zwischen Wand und Holz gleiten. Ich finde das Fach, finde die Schlüssel.
Ich schließe die Türen auf. Briefe, Mappen und Plastiktüten mit Fotos quellen mir entgegen. Ich fange an zu wühlen. Wie sieht meine Zeugnismappe aus? Ich erinnere nur ein graues Zeugnisheft aus der Grundschule und lose Blätter aus dem Gymnasium.
Zwischen Mutters Steuerunterlagen aus den neunziger Jahren entdecke ich eine rote Mappe.
Judith (Zeugnisse).
Ich klappe sie auf, blicke auf mein letztes Zeugnis.
Versetzt in Klasse zwölf. 22. Juni 1991.
Darunter liegt ein weißer Brief. Ungeöffnet. Adressiert an
Frau Judith Wolf, Bussestraße
29
a,
22299
Hamburg.
Eine kleine, enge Handschrift. Die Buchstaben kippen mal nach links, mal nach rechts. Kein Absender. Der Poststempel ist vom 02 . 07 . 2009 .
Ich reiße den Umschlag auf, ziehe ein von einem Spiral-Notizblock abgerissenes, liniertes Blatt heraus und beginne zu lesen.
Hamburg, 27 . Juni 2009
Sehr geehrte Frau Wolf,
mein Name ist Tessa Jansen. Heute vor achtzehn Jahren wurde ich geboren. Ich bin Ihre Tochter. Hätten Sie Zeit, sich mit mir zu treffen? Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Bitte melden Sie sich auch, wenn Sie mich nicht sehen wollen.
Mit freundlichen Grüßen
Tessa Jansen
Rombergstraße 10
20255 Hamburg
Keine Telefonnummer. Tessa. Eine Abkürzung für Theresa? Sie hat fünf Tage gewartet, bis sie den Brief abgeschickt hat. Meine Gedanken überschlagen sich. Wo ist die Rombergstraße? Wohnt sie noch dort? Was denkt sie von mir? Dass der Brief mich nicht erreicht hat, weil ich umgezogen bin? Dass sie es mir nicht wert ist, ihr zu antworten?
Ich stecke das Blatt und den Umschlag ein, schiebe Mutters Briefe, Plastiktüten und Mappen in den Schreibtisch zurück, schließe ab, lege die Schlüssel der Türen ins hintere Fach und verlasse das Haus.
Das Navigationsgerät weist mir den Weg nach Eimsbüttel. Bis dorthin brauche ich höchstens eine Viertelstunde. Hat sie all die Jahre nur eine Viertelstunde von der Bussestraße entfernt gelebt?
Ich starte den Wagen. Mein Fuß tut weh. Ich fahre aus der Parklücke, ramme beinahe einen Lkw . Das Hupen dröhnt in meinen Ohren. Konzentrier dich. Sonst passiert noch was.
Mit zwanzig wohnt man längst in einer Wohngemeinschaft oder in einem Studentenwohnheim. Wenn man studiert. Aber vielleicht wohnen ihre Eltern noch in der Rombergstraße. Vielleicht geben sie mir die Adresse ihrer Tochter. Meiner Tochter.
Auf dem Ring 2 gerate ich in einen Stau. Nichts bewegt sich. Einige Autofahrer steigen aus. Im Verkehrsfunk ist von einem Unfall die
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