Ferne Tochter
paarmal hier, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Es gab Schmalzbrote umsonst.
Wieso kann ich nicht mitkommen zu dir nach Hause?, fragt er und legt den Arm um meine Schulter. Weil ich dann Ärger kriege. Aber deine Eltern kennen mich doch gar nicht. Es geht nicht um dich, sage ich. Sie wollen nicht, dass ich einen Freund habe. In was für einer Welt leben die denn?, fragt er und küsst mich aufs Ohr. In einer mit eigenen Regeln und Gesetzen. Da sind ja meine Großeltern moderner, sagt er. Mein Opa ist auch anders, aber auf den hören sie leider nicht. Mit sechzehn musst du dir das nicht mehr bieten lassen, sagt er. Und was soll ich machen?, frage ich. Ausziehen? Warum nicht? Und wohin, ohne Geld? Wir haben noch Platz. Ich kann ja mal meine Eltern fragen. Hör bloß auf, rufe ich. Wenn ich ankomme und sage, ich ziehe zu meinem Freund, stecken sie mich ins Internat.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«
Vor mir steht eine zierliche junge Frau mit langen dunklen Haaren und streckt mir ihre Hand entgegen. »Antonia Bremer.«
»Freut mich.«
Sie setzt sich mir gegenüber und greift nach der Karte. »Ich brauche unbedingt einen Tee. Bei mir war eben die Hölle los.«
Sie bestellt einen Darjeeling, und ich nehme einen Milchkaffee.
Ihr Auftreten überrascht mich. Ich hatte mit Feindseligkeit gerechnet.
»Meine beiden Jungs haben sich so in die Haare gekriegt, dass ich sie nicht mitbringen konnte. Ich wollte erst absagen, aber ich hatte Ihre Nummer nicht notiert. Zum Glück war eine Nachbarin bereit, die beiden für eine Stunde zu betreuen.«
»Wie alt sind Ihre Kinder?«
»Drei und fünf.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie es trotz allem schaffen, ab und zu meine Mutter zu besuchen.«
»Wir sind gut befreundet. Als ich vor sieben Jahren an ihre Schule kam, hat sie mir den Einstieg sehr erleichtert.«
»Wieso ihre Schule?«
Antonia Bremer stutzt. »Sie wussten nicht, dass Ihre Mutter Rektorin ist?«
»Nein.«
»Sie war eine der besten in ganz Hamburg. Im Referendariat hieß es immer, wer zu Frau Wolf kommt, hat das große Los gezogen.«
»Was? Das kann ich mir kaum vorstellen.«
»Wieso nicht?«
»Meine Mutter war früher unglaublich streng und hart in ihrem Urteil.«
»So habe ich sie nicht kennengelernt.«
»Wie denn?«
»Voller Begeisterung und Elan und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Sie konnte uns alle motivieren, wich Konflikten nicht aus, hatte Humor und immer neue Ideen.«
Mir ist, als spreche Antonia Bremer über jemand anderen.
»Sie hat unsere Schule über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt gemacht. Bei uns spielt die musikalische Erziehung eine wichtige Rolle, es gibt vielfältige Integrationsprogramme für Kinder mit Migrationshintergrund, Englischunterricht ab der ersten Klasse …«
Konnte Mutter erst so werden, nachdem ich verschwunden war?
»Wann immer die Schulbehörde ein spannendes Projektangebot hatte, Ihre Mutter hat sich dafür engagiert.«
»Und dann wurde sie krank.«
»Ja, ganz plötzlich, am Mittwoch vor Ostern. Es war ein großer Schock für uns alle. Wir vermissen sie so.«
Antonia Bremer greift nach ihrer Tasse. Sie sieht aus, als finge sie gleich an zu weinen.
»Nach ihrem schweren Schlaganfall war ziemlich bald klar, dass sie nicht an die Schule zurückkehren würde, und man hat beschlossen, sie in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Es war eine schwierige Situation. Die Behörde brauchte viele Unterlagen und Dokumente. Ich hatte Ihrer Mutter gleich nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus schon ein paar Dinge aus dem Haus geholt. Von daher lag es nahe, dass ich mich auch um die Beschaffung der Papiere kümmere.«
Ich nicke.
»In dem Zusammenhang habe ich überhaupt erst erfahren, dass sie eine Tochter hat. Frau Steffen hat es mir erzählt.«
Kein Wunder, dass Mutter ihren jüngeren Kolleginnen gegenüber meine Existenz verschwiegen hat. Es hätte nicht zu ihrem Erfolgsimage gepasst, zugeben zu müssen, dass sie als Mutter gescheitert war.
»Entschuldigen Sie, dass ich gestern am Telefon etwas heftig reagiert habe. Aber wir haben uns alle gefragt, wie es sein kann, dass die Tochter dieser wunderbaren Frau seit zwanzig Jahren keinen Kontakt zu ihr hat.«
»Und hat Ihnen Frau Steffen dazu nichts gesagt?«
»Ich habe sie gestern Abend angerufen, und da hat sie das Kind erwähnt …«
»Ich erspare Ihnen die Geschichte. Sie wirft ein hässliches Licht auf Ihre ehemalige Rektorin.«
Antonia Bremer schaut mich
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