Ferne Tochter
mir ihre linke Hand entgegen und summt. Ihre Haare sind frisch blondiert. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid und ein buntgemustertes Seidentuch. Ist sie dünner geworden?
»Gut siehst du aus.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie lässt mich los, streicht über meine braune Leinenhose, die helle Bluse, den schmalen Gürtel, meinen Ehering.
»Herzliche Grüße von Francesco.«
Sie zieht ihre linke Augenbraue hoch.
»Keine Angst. Wir haben verstanden, dass du hier bleiben möchtest.«
Die Verkündigung steht im Regal. Wie klein die Figuren sind. Ich hätte ihr ein paar Postkarten mit Detailaufnahmen von Maria und dem Engel mitbringen sollen. Statt der Moosröschen aus Winterhude.
Ich stelle die Blumen in die Vase. Mutter versucht zu lächeln.
»Wie geht es dir?«
Ein linkes Achselzucken.
»Genießt du die Wärme?«
Sie nickt, deutet auf den Sessel links neben ihrem Rollstuhl.
Ich setze mich, bin auf einmal müde. Ich sollte ihr etwas erzählen, von Francesco, von Rom, unserer Wohnung, meinem Schwiegervater. Ich schweige.
Sie greift nach meiner Hand, ihr linkes Auge fixiert mich. Was will sie mir sagen?
»Ich habe über das Haus nachgedacht.«
Ein kurzer, schriller Ton.
»Hast du eine Vorstellung, was damit passieren soll?«
Sie seufzt.
»Du kannst nicht dorthin zurückkehren.«
Ihre Lippen zittern.
»Willst du, dass erst mal alles so bleibt, wie es ist?«
Keine Antwort. Speichel tropft auf das Lätzchen.
»Sobald es kälter wird, muss geheizt werden, wenigstens ein paar Stunden am Tag.«
Sie zeigt auf ihre Handtasche. Ich reiche sie ihr. Nein, ich soll sie öffnen und das schwarze Schlüsseletui herausnehmen.
»Ich fahre nachher hin und gucke, ob alles in Ordnung ist.«
Wieder fixiert mich ihr Auge.
»Vielleicht kann ich auch mit der Nachbarin sprechen und ihr die Situation erklären. Es wäre gut, wenn sie meine Telefonnummer hätte, für den Fall, dass es irgendwelche Probleme gibt.«
Sie brummt und macht eine Handbewegung, als sei das alles nicht wichtig.
»Mich würde es beruhigen. Außerdem würde ich den Vorgarten gern in Ordnung bringen lassen. Hast du einen Gärtner?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ich werde schon jemanden finden. Dir muss es doch auch wichtig sein, dass das Haus nicht so einen vernachlässigten Eindruck macht.«
Mutter ächzt. Sie hat anscheinend kein Interesse an diesem Thema.
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Tanja Schmidt schiebt einen in sich zusammengesunkenen Mann im Rollstuhl über die Straße. Soll ich mit Mutter einen Spaziergang machen? Ich weiß nicht, ob ich mit dem Rollstuhl zurechtkäme.
»Möchtest du gern nach draußen? Das Wetter ist so schön.«
Mutter schnauft. Ich drehe mich um.
Sie winkt mich zu sich heran. Ihr linkes Augenlid flattert.
»Was ist?«
Ungeduldige Laute.
»Soll ich dir deinen Schreibblock geben?«
Ein Summen.
Ich suche den Block und den Stift, finde beides in der Nachttischschublade.
Sie fängt an zu schreiben. Ein zittriges
T,
gefolgt von einem
O.
Geht es um ihren Tod? Wo und wie sie beerdigt werden will? Gibt es ein Testament, in dem sie Antonia Bremer das Haus vererbt?
Ich setze mich und warte. Ein Schlaganfall ist kein Todesurteil. Sie kann noch lange leben.
TOCHTER
???,
lese ich.
Meine Kehle schnürt sich zu.
Mutter schaut mich an.
»… Ich … habe keinen Kontakt zu ihr aufgenommen … Ich weiß, es ist feige … Ich will ihre Vorwürfe nicht hören, will nichts erklären müssen …«
Tränen steigen mir in die Augen.
»Wenn ich allein wäre, würde ich es vielleicht schaffen …«
Sie legt ihre Hand auf meine.
»Nach meiner Rückkehr aus Hamburg war ich fest entschlossen, mit Francesco zu reden … aber mir fehlt der Mut … wir lieben uns … ich habe viel zu verlieren … Er hat natürlich gemerkt, dass irgendwas mit mir los ist …«
Ich weine.
Mutter summt.
»… In all den Jahren … habe ich gelernt, mich zu verstellen … es fällt mir nicht schwer … ich habe nur Angst, dass ich im Schlaf etwas verraten könnte …«
Ich will aufstehen, mir ein Taschentuch holen. Mutters Hand hält mich fest.
»Es ist eine schwere Entscheidung … zwischen Ehemann und Tochter … und ich habe mich für Francesco entschieden.«
Ein Knurren ertönt.
Irritiert ziehe ich meine Hand weg. Ich habe zu viel gesagt.
Kurz darauf verabschiede ich mich. Fast hätte ich den Schlüssel vergessen.
Ich steige in meinen Wagen, spüre erst jetzt meine Wut. Was sollte das kritische Knurren?
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