Ferne Tochter
Mutter kennt sich mit solchen Entscheidungen aus, sie hat es genauso gemacht.
Ich liege auf meinem Bett und lese. Vater reißt die Zimmertür auf. Kannst du nicht anklopfen?, frage ich und lese weiter. Jetzt wirst du auch noch frech! Seine Stimme überschlägt sich. Leg gefälligst das Buch beiseite, wenn ich mit dir rede. Denk an deinen Blutdruck, du darfst dich nicht aufregen!, ruft Mutter vom Flur her. Wie soll ich ruhig bleiben, mit so einem Flittchen als Tochter. Das nimmst du zurück!, schreie ich und springe auf. Mit wem hast du dich herumgetrieben? Dir sag ich gar nichts! Ihm steht der Schweiß auf der Stirn. Gleich schlägt er mich, dann schlage ich zurück. War’s dieser Johannes?, fragt Mutter und greift nach Vaters Hand. Lasst mich in Ruhe. Was ist das für ein Ton!, brüllt er und kommt auf mich zu. Glaubst du, du kannst dir das leisten? Seine Spucke sprüht mir ins Gesicht. Und wie soll es jetzt weitergehen? Ich kann seinem Blick nicht standhalten. Wenn du das Kind abtreiben lässt, bist du nicht mehr meine Tochter! Manfred, nun reicht’s!, sagt Mutter. Er stiert mich an, ich rühre mich nicht. Als sie draußen sind, fange ich an zu zittern. Spätabends schleiche ich über den Flur, höre aus dem Schlafzimmer Vaters Gepolter und Mutters beschwichtigende Stimme. Wenn das Kind geboren wird, bin ich knapp zweiundvierzig, das ist nicht zu alt. Bist du verrückt geworden?, brüllt Vater. Es gibt Frauen, die mit Mitte vierzig selbst noch ein Kind zur Welt bringen, entgegnet Mutter, wir könnten es aufziehen, das wäre die beste Lösung für alle. Wieso soll ich nach einer Lösung suchen?, brüllt Vater. Es ist unser Enkelkind, sagt Mutter. Mit diesem Bastard habe ich nichts zu schaffen.
Ich fahre zum Haus, gehe einmal schnell durch alle Räume, suche die Telefonnummern von drei Gärtnern heraus und schließe wieder ab.
Ich klingele bei der Nachbarin, sie öffnet mir zögernd die Tür. Das Baby weint, Leonie sehe ich nicht. Ich sage ihr, dass ich einen Gärtner für den Vorgarten bestellen werde. Ihre Miene hellt sich auf. Sie erkundigt sich nach Mutters Verfassung, lässt Grüße an sie ausrichten, nimmt meine Karte entgegen und verspricht, sich im Notfall bei mir zu melden.
Die letzten Sonnenstrahlen. Ich will nicht den Rest des Tages in meinem Hotelzimmer verbringen. Plötzlich drängt sich mir ein Bild auf: die kleinen Bäume in der Rombergstraße. Ich schlage die Hände vors Gesicht. Geht alles wieder von vorn los?
An der Außenalster sind Hunderte von Menschen unterwegs. Ich komme an einem Café vorbei, finde keinen freien Platz, laufe weiter bis zur Krugkoppelbrücke, setze mich auf einen Bootssteg. Wie konnte ich vorhin, Mutter gegenüber, so sicher klingen? Habe ich im Ernst geglaubt, ich könnte Tessa nach und nach vergessen?
Und wenn ich zu Harald Jansen fahre?
Francesco schickt mir eine SMS .
Wie war der Besuch bei deiner Mutter? Fahre jetzt zu meinem Vater. Telefonieren später. Kuss, F.
Schwierig,
schreibe ich und lösche den Text wieder.
Gut. Gruß an Vincenzo. Deine J.
Ich starre ins Wasser. Wie lange ertrage ich es noch, ein verlogenes Leben zu führen? Soll ich Francesco anrufen?
Ein Segelboot nähert sich dem Steg, darin sitzt ein Paar mit zwei halbwüchsigen Jungen. Die Frau hat halblange, dunkle Haare und ein rundes Gesicht. Sie erinnert mich an Claudia. Ist es Claudia?
Ich setze rasch meine Sonnenbrille auf.
Sie legen an, der Vater führt Regie, die Söhne schmollen, die Mutter versucht zu vermitteln. Nein, ihre Stimme klingt anders.
Wir machen Mathe bei Claudia im Zimmer, sie sitzt auf ihrem Bett, ich auf dem Schreibtischstuhl. Seit ein paar Tagen finde ich Stühle bequemer als Sessel. Heute habe ich nicht mitgeturnt, habe gesagt, ich hätte meine Tage. Schon wieder?, fragte Claudia prompt, letzte Woche warst du auch nicht dabei. Ich würde mir so etwas nie merken. Vielleicht wäre es gut, Sport zu machen. Vielleicht würde sich alles von selbst regeln. Abgang im zweiten Monat. Kann man dabei verbluten? Was ist los mit dir? Claudia sieht mich stirnrunzelnd an. Wieso? Ich habe dich gefragt, ob du die dritte Aufgabe auch so schwierig findest. Tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken woanders. Das kommt in letzter Zeit ziemlich oft vor. Ja … ich kann mich schlecht konzentrieren. Warum habe ich ihr bisher nichts erzählt? Sie ist meine beste Freundin. Hast du dich mit Johannes gestritten?, fragt Claudia und rückt näher. Ich schlucke. Sie legt ihr Mathebuch
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