Ferne Ufer
ausstreckte, ertastete ich eine rohe Mauer vor mir.
Jamie sagte laut etwas auf gälisch, offenbar war es die Übersetzung für »Sesam öffne dich«, denn nach einer Weile hörte ich ein knirschendes Geräusch, und ein matter Lichtstreifen teilte die Dunkelheit. Der Spalt wurde breiter, ein Teil der Wand tat sich auf, und ein kleiner Durchgang wurde sichtbar. Die Geheimtür bestand aus einem Holzrahmen, an dem zurechtgehauene Steine so befestigt waren, daß sie wie ein Teil der Wand aussahen.
Der dahinter verborgene Kellerraum war groß, gut zehn Meter lang. Mehrere Gestalten machten sich hier zu schaffen, und die Luft war so alkoholgeschwängert, daß mir der Atem stockte. Jamie lud den Leichnam in einer Ecke ab und wandte sich zu mir um.
»Meine Güte, Sassenach, ist alles in Ordnung?« Der Keller wurde von Kerzen erleuchtet, in deren Schein ich Jamies angespanntes Gesicht gerade noch erkennen konnte.
»Mir ist ziemlich kalt«, sagte ich und bemühte mich, ein Zähneklappern zu unterdrücken. »Mein Hemd ist blutgetränkt. Sonst geht’s mir gut, glaube ich.«
»Jeanne!« rief er zum anderen Ende des Raums hinüber, und eine ziemlich unglücklich aussehende Madame kam zu uns. Jamie erklärte mit wenigen Worten, was geschehen war, worauf ihre Miene noch sorgenvoller wurde.
»Horreur!« rief sie. »Ermordet? In meinem Haus? Vor Zeugen ?«
»Aye, ich fürchte, ja«, sagte Jamie gefaßt. »Ich kümmere mich darum. Aber in der Zwischenzeit müssen Sie nach oben gehen. Vielleicht war er nicht allein. Sie wissen, was zu tun ist.«
Seine Stimme vermittelte gelassene Zuversicht, und er drückte ihren Arm. Die Berührung schien sie zu beruhigen, und sie wandte sich zum Gehen.
»Ach, und Jeanne«, rief Jamie ihr nach. »Wenn Sie wiederkommen, könnten Sie Kleider für meine Frau mitbringen?«
»Kleider?« Madame Jeanne spähte in den Schatten, wo ich stand. Ich trat ins Licht, um ihr die Folgen meiner Begegnung mit dem Zollbeamten vor Augen zu führen.
Madame Jeanne zwinkerte ungläubig, bekreuzigte sich, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand durch die Geheimtür, die sich mit einem dumpfen Schlag hinter ihr schloß.
Ich begann vor Kälte und Erschöpfung zu zittern. Obwohl Unfälle, Blut und sogar plötzliche Todesfälle zu meinem Berufsalltag gehörten, waren die Ereignisse des Vormittags nicht spurlos an mir vorübergegangen. Es war wie ein schlimmer Samstagabend in der Notaufnahme.
»Komm, Sassenach.« Jamie legte mir sanft die Hand auf den Rücken. »Wir gehen dich waschen.« Seine Berührung zeigte bei mir die gleiche Wirkung wie bei Madame Jeanne; es ging mir sofort besser.
»Waschen? Womit denn? Mit Branntwein?«
Das entlockte ihm ein leises Lachen. »Nein, mit Wasser. Ich kann dir sogar eine Badewanne anbieten, aber ich fürchte, das Wasser ist kalt.«
Es war tatsächlich eisig.
»W-w-woher kommt das Wasser?« fragte ich zitternd. »Von einem Gletscher?« Das Wasser strömte aus einer Leitung in der Wand. Sie war normalerweise mit einem Holzpfropfen verstopft, der mit einem ziemlich unhygienisch aussehenden Lumpen abgedichtet war.
»Vom Dach«, antwortete er. »Da oben ist eine Regenwasserzisterne. Die Dachrinne geht seitlich an der Hausmauer nach unten, und die Leitung aus der Zisterne ist darin versteckt.« Auf diese Vorrichtung schien er überaus stolz zu sein, und ich lachte.
»Gut durchdacht«, lobte ich. »Wofür brauchst du das Wasser?«
»Um den Branntwein zu verschneiden«, erklärte er. Er deutete auf die schemenhaften Gestalten, die sich am anderen Ende des Raumes mit lobenswertem Eifer inmitten einer stattlichen Anzahl von Fässern und Kübeln zu schaffen machten. »Sein Alkoholgehalt ist um ein Mehrfaches höher als normal. Hier mischen wir ihn mit reinem Wasser und füllen ihn zum Verkauf wieder in Fässer ab.«
Er schob den groben Pfropfen wieder in die Leitung und zog die große Wanne ein Stück beiseite. »Wir räumen sie aus dem Weg - sie werden Wasser brauchen.« Tatsächlich wartete schon einer der Männer mit einem kleinen Faß im Arm. Er musterte mich neugierig, nickte Jamie zu und schob das Faß unter den Wasserstrahl.
Hinter einem eilig errichteten Wandschirm aus leeren Fässern spähte ich mißtrauisch in die Tiefen meiner Badewanne. Eine einzelne Kerze brannte neben mir in einer Wachspfütze und spiegelte sich im Wasser, das schwarz und unendlich tief aussah. Zitternd wie Espenlaub zog ich mich aus und dachte dabei, wieviel leichter es doch gewesen war,
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