Ferne Ufer
drückte mir die Kerze in die Hand, kniete neben dem Toten nieder und zog ihm das blutbefleckte Tuch vom Gesicht.
Ich hatte schon eine Menge Leichen gesehen; der Anblick schockierte mich nicht, war mir aber auch nicht gerade angenehm. Stirnrunzelnd betrachtete Jamie das Gesicht, das im Kerzenschein wächsern glänzte, und murmelte etwas vor sich hin.
»Was ist los?« fragte ich. Ich hatte geglaubt, daß mir nie mehr warm würde, aber Jamies Rock war nicht nur dick und gut gearbeitet, sondern hatte auch noch etwas von seiner Körperwärme gespeichert, so daß mein Zittern allmählich nachließ.
»Das ist bestimmt kein Zöllner«, meinte Jamie skeptisch. »Ich kenne alle berittenen Beamten in der Gegend. Aber den Kerl habe ich noch nie gesehen.« Leicht angeekelt schlug er den blutgetränkten Rock auf und griff in die Innentasche.
Er durchsuchte die Kleidung des Mannes gründlich und stieß schließlich auf ein kleines Federmesser und ein in rotes Papier gebundenes Büchlein.
»Neues Testament«, las ich erstaunt.
Jamie nickte und sah zu mir auf. »Seltsam, so etwas ins Puff mitzuschleppen.« Er wischte das kleine Buch mit dem Umschlagtuch ab und breitete den Stoff wieder über das Gesicht des Toten. Dann stand er auf und schüttelte den Kopf.
»Sonst hat er nichts in den Taschen gehabt. Jeder Zollinspektor muß seine Vollmacht jederzeit mit sich führen, sonst hat er nicht das Recht, Hausdurchsuchungen vorzunehmen oder Waren zu beschlagnahmen.« Er zog die Brauen hoch. »Warum hast du gedacht, er wäre ein Zöllner?«
Ich zog Jamies Rock enger um mich und versuchte, mich zu erinnern, was der Mann im Treppenhaus zu mir gesagt hatte. »Er fragte, ob ich ein Lockvogel sei, und wollte die Hausherrin sprechen. Dann sagte er etwas von einer Belohnung - einem Prozentanteil der beschlagnahmten Schmuggelware, so hat er sich ausgedrückt - und daß niemand etwas davon zu erfahren bräuchte. Und du hattest gesagt, die Zöllner seien hinter dir her«, fügte ich hinzu. »Deshalb habe ich ihn für einen gehalten. Dann ist Mr. Willoughby aufgetaucht und alles ging daneben.«
Jamie nickte, schien aber aus der Sache nicht schlau zu werden. »Aha. Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber wir können von Glück reden, daß er wohl kein Zöllner ist. Zuerst dachte ich, daß etwas schiefgelaufen wäre, aber wahrscheinlich ist es in Ordnung.«
»Schiefgelaufen?«
Er lächelte. »Ich habe ein Arrangement mit dem obersten Zollbeamten im Distrikt, Sassenach.«
Erstaunt sah ich ihn an. »Arrangement?«
Er zuckte die Achseln. »Bestechung könnte man auch sagen.« Er klang leicht gereizt.
»Zweifellos das übliche Geschäftsgebaren?« erkundigte ich mich möglichst taktvoll. Seine Mundwinkel zuckten.
»Aye. Auf jeden Fall sind Sir Percival Turner und ich uns einig, und wenn er Zollbeamte in dieses Haus schicken würde, fände ich das im höchsten Maße beunruhigend.«
»In Ordnung.« Ich versuchte, mir einen Reim auf all die merkwürdigen Ereignisse des Vormittages zu machen. »Aber was hast du gemeint, als du zu Fergus sagtest, die Zöllner wären dir auf den Fersen? Und warum sind alle wie kopflose Hühner herumgerannt?«
»Ach das.« Er lächelte flüchtig. »Wie gesagt, es handelt sich um ein Arrangement. Und dazu gehört, daß Sir Percival seine Vorgesetzten in London zufriedenstellen muß, indem er hin und wieder Schmuggelware sicherstellt. Also sorgen wir dafür, daß er dazu Gelegenheit erhält. Wally und die Männer haben zwei Wagenladungen von der Küste geholt, eine mit bestem Branntwein und die andere mit verspundeten Fässern und dem schlechten Wein, und als Krönung ein paar Fässer billigen Fusel, damit er ein bißchen Geschmack bekommt.
Ich traf sie heute morgen wie geplant draußen vor der Stadt, dann fuhren wir die Wagen rein und sorgten dafür, daß wir die Aufmerksamkeit der berittenen Patrouille auf uns zogen. Sie jagten uns durch die Gassen, bis es an der Zeit war, daß ich mich mit den guten Fässern von Wally mit seiner Ladung Fusel verabschiedete. Wally sprang von seinem Wagen und machte sich aus dem Staub, und ich fuhr wie der Teufel hierher. Zwei, drei Dragoner verfolgten mich zum Schein. Sieht gut aus in einem Bericht, weißt du.« Er grinste mich an und zitierte: »›Die Schmuggler entkamen trotz eifriger Verfolgung, aber den tapferen Soldaten Seiner Majestät gelang es, eine ganze Wagenladung alkoholischer Getränke im Wert von sechzig Pfund, zehn Schilling sicherzustellen.‹«
»Ich kann’s
Weitere Kostenlose Bücher