Ferne Ufer
Erschöpfung.
»Plötzlich spürte ich etwas Lauerndes über mir, und ein abscheulicher Gestank nach totem Fisch drang mir in die Nase«, sagte er. »Augenblicklich kam ich auf die Füße und sah diesen nassen Seehundbullen vor mir stehen und mich anstarren.«
Jamie war weder ein Fischer noch ein Seefahrer, doch er hatte genug über Seehundbullen gehört, um zu wissen, daß sie gefährlich waren, vor allem, wenn sie sich durch Eindringlinge in ihrem Territorium bedroht fühlten. Beim Anblick der großen Schnauze mit den spitzen Zähnen und der enormen Fettwülste, die den Körper umhüllten, hatte er keine Sekunde daran gezweifelt.
»Er hatte an die zweihundertachtzig Pfund auf dem Leib, Sassenach«, erklärte Jamie. »Selbst wenn er nicht vorhatte, mir das Fleisch von den Knochen zu reißen, hätte er mich doch mit einem Streich zurück ins Wasser befördern oder mich unter Wasser zerren können, wo ich ertrunken wäre.«
»Offenbar hat er davon abgesehen«, antwortete ich trocken. »Und was geschah danach?«
Er lachte. »Ich glaube, ich war zu erschöpft, um etwas Vernünftiges zu tun«, meinte er. »Nachdem ich ihn mir kurz angesehen hatte, habe ich zu ihm gesagt: ›Keine Sorge, ich bin’s nur.‹«
»Und er?«
Jamie zuckte die Achseln. »Er musterte mich noch eine Weile - wußtest du, daß Seehunde nicht viel zwinkern? Macht einen ganz schön unruhig, wenn man so angestarrt wird -, dann hat er gegrunzt und ist vom Felsen zurück ins Wasser gerutscht.«
Nun war Jamie ganz allein auf der kleinen Insel. Er hatte sich eine Weile ausgeruht, dann begann er gezielt, die Spalten zu untersuchen. Es dauerte nicht lange, bis er auf einen Einschnitt stieß, der sich einen Fuß unter der Oberfläche zu einem geräumigen Hohlraum öffnete. Da er in der Mitte der Insel lag und der Boden mit trockenem Sand bedeckt war, schien er selbst bei heftigen Stürmen vor Überschwemmung geschützt.
»Spann mich nicht auf die Folter«, sagte ich und versetzte ihm einen leichten Stoß in den Magen. »War das französische Gold dort?«
»Ja und nein, Sassenach«, entgegnete Jamie und zog geflissentlich den Bauch ein. »Nach all den Gerüchten, die herumschwirrten, hatte ich Goldbarren erwartet. Und Goldbarren im Wert von dreißigtausend Pfund hätten eine Menge Raum eingenommen. Aber es war nur ein Kistchen da von nicht einmal einem Fuß Länge. Und dazu noch ein kleiner Lederbeutel. Aber die Kiste enthielt Gold und Silber.«
Gold und Silber. Die Holzkiste enthielt zweihundertundfünf Gold- und Silbermünzen. Einige sahen aus wie frisch geprägt, andere waren vollkommen abgegriffen.
»Alte Münzen, Sassenach.«
»Alte? Du meinst aus früheren Jahrhunderten?«
»Griechische, Sassenach, und römische. Wirklich sehr alt.«
Wortlos starrten wir einander an.
»Das ist unglaublich«, sagte ich schließlich. »Es ist ein Schatz, aber…«
»Nicht, was Louis geschickt hätte, um eine Armee zu unterstützen«, führte er meinen Satz zu Ende. »Nein, wer immer diesen Schatz dort versteckt hat - es war sicherlich nicht Louis oder einer seiner Minister!«
»Und was war in dem Beutel?« fragte ich.
»Steine, Sassenach. Edelsteine. Diamanten, Perlen, Smaragde und Saphire. Nicht viele, aber hübsch geschliffen und nicht direkt klein.«
Unter dem grauen Himmel hatte er sich dann auf einen Felsen gesetzt und die Münzen und Edelsteine staunend zwischen den Fingern gewendet. Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Als er aufblickte, sah er sich umgeben von neugierigen Seehunden. Die Ebbe war gekommen, und die weiblichen Seehunde hatten ihren Fischfang beendet. Zwanzig schwarze Augenpaare musterten ihn mißtrauisch.
Ermutigt durch die Anwesenheit seines Harems, war auch der riesige Seehundbulle zurückgekehrt. Laut bellend warf er den Kopf von einer Seite zur anderen und schob seinen tonnenschweren Körper Jamie entgegen.
»Ich hielt es für das beste zu verschwinden«, sagte er. »Ich hatte gefunden, was ich gesucht hatte. Also legte ich die Kiste und den Beutel an ihren Platz zurück - ich hätte sie nie heil ans Ufer gebracht, und selbst wenn ich es geschafft hätte, was dann? Also legte ich alles zurück und stieg halb erfroren wieder ins Wasser.«
Nach ein paar Zügen hatte ihn eine Welle erfaßt und ihn binnen einer halben Stunde an die Küste getragen. Er kroch an Land, zog sich an und schlief im weichen Gras ein.
Er hielt inne, und ich bemerkte, daß er zwar die Augen auf mich gerichtet hatte, mich aber nicht
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