Ferne Ufer
wirklich sah.
»Ich erwachte bei Morgengrauen«, sagte er leise. »Ich habe unzählige Morgendämmerungen erlebt, Sassenach, aber nie zuvor eine solche. Ich spürte, wie sich die Erde unter mir drehte und wie mein Atem mit dem Wind kam und ging. Ich fühlte mich, als hätte ich weder Haut noch Knochen, als wäre in mir nur das Licht der aufgehenden Sonne.«
Als seine Gedanken sich vom Moor abwandten und er zu mir zurückkehrte, wurden seine Augen weich.
Sachlich fuhr er fort: »Nachdem die Sonne höher gewandert war und mich etwas gewärmt hatte, stand ich auf und ging landeinwärts auf die Straße zu, den Engländern entgegen.«
»Aber weshalb bist du zurückgegangen?« wollte ich wissen. »Du warst frei! Du hattest Geld! Und…«
»Und wo sollte ich dieses Geld ausgeben, Sassenach?« unterbrach er mich. »Sollte ich in die Hütte eines Kätners gehen und ihm eine Goldmünze oder einen kleinen Smaragd anbieten?« Er lächelte über meine Entrüstung und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er sanft. »Ich mußte zurückgehen. Aye, eine Zeitlang hätte ich im Moor leben können, halbverhungert und nackt. Aber, Sassenach, sie waren hinter mir her - schließlich dachten sie, ich wüßte, wo das Gold versteckt ist. Keine Kate um Ardsmuir herum wäre vor den Engländern sicher gewesen, solange ich frei umherlief - ich hätte ja dort Zuflucht suchen können.
Ich habe erlebt, wie die Engländer bei ihrer Suche vorgehen«, fügte er schärfer hinzu. »Hast du die Vertäfelung in der Halle gesehen?«
Das hatte ich wohl. Ein Eichenpaneel war eingeschlagen, womöglich von einem schweren Stiefel, und die Vertäfelung zwischen Tür und Treppe zeigte Spuren von Säbelhieben.
»Wir lassen alles unverändert«, erklärte er. »Um den Kleinen, wenn sie fragen, zu zeigen, wie die Engländer sind.«
Der unterdrückte Haß in seiner Stimme traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Da ich wußte, was die englische Armee in den Highlands angerichtet hatte, blieb mir verdammt wenig zu ihrer Verteidigung zu sagen. Also schwieg ich, und nach einer Weile fuhr er fort.
»Ich wollte nicht, daß die Bewohner rund um Ardsmuir es am eigenen Leibe erfahren, Sassenach.« Bei dem Wort ›Sassenach‹ drückte er meine Hand, und um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln. Für ihn war ich eine ›Sassenach‹, jedoch keine Engländerin.
»Und wenn man mich nicht gefunden hätte, hätte sich die Jagd wieder bis nach Lallybroch ausgedehnt. Wenn ich schon nicht die Bewohner von Ardsmuir schonen wollte, dann doch wenigstens meine eigenen Verwandten. Und selbst wenn ich die Verpflichtung nicht empfunden hätte…« Nach Worten suchend, brach er ab.
»Ich mußte mich stellen«, sagte er langsam, »schon allein wegen der Männer im Gefängnis.«
»Wegen der Männer im Gefängnis?« fragte ich überrascht. »Waren denn Leute aus Lallybroch mit dir zusammen eingesperrt?«
»Nein. Die Männer kamen aus allen Teilen der Highlands, fast von jedem Clan war einer dabei. Desto dringender brauchten sie einen Anführer.«
»Und du warst ihr Anführer?« fragte ich ihn sanft.
»In Ermangelung eines Besseren«, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns.
Er war aus dem Kreis seiner Familie und seiner Pächter gekommen und besaß eine Kraft, die ihn hatte sieben Jahre durchhalten lassen. Nun fand er sich in einer Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit wieder, die einen Mann schneller töten konnte als die Feuchtigkeit, der Dreck und die bittere Kälte im Gefängnis.
Daher hatte er sich der Überlebenden der Schlacht von Culloden angenommen, damit sie und auch er in den Mauern von Ardsmuir überlebten. Er überzeugte, schmeichelte und überredete, wo er konnte, und kämpfte, wo er mußte, um sie zusammenzuschweißen, so daß sie wie ein Mann gegen die Engländer standen. Alte Clan-Rivalitäten und Bindungen mußten aufgegeben werden, und sie nahmen ihn als ihren Anführer an.
»Sie waren meine Leute«, sagte er leise. »Und das hielt mich am Leben.« Aber dann trennte man sie gewaltsam und brachte sie als Zwangsarbeiter in ein fremdes Land. Und er hatte sie nicht retten können.
»Du hast für sie getan, was du konntest. Aber jetzt ist es vorbei«, sagte ich leise.
Schweigend hielten wir uns umschlungen, ungeachtet der Geräusche im Haus. Das leise Knarren und Seufzen schenkte uns Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit. Wir waren zum erstenmal wirklich miteinander allein, fernab aller Gefahren und Ablenkungen.
Jetzt hatten wir Zeit. Zeit, um das Ende
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