Ferne Ufer
als ich hörte, wie jemand im Hof eintraf. Ich ging die Treppe hinunter und mußte feststellen, daß eine Horde Kinder vom Haus Besitz ergriffen hatte und zwischen Küche und vorderem Salon hin und her trollte. Zwischen ihnen erblickte ich den einen oder anderen mir fremden Erwachsenen, der mich neugierig beäugte.
Ich betrat den Salon. Man hatte Jamies Bett weggeräumt. Statt dessen saß er, in eine Decke gehüllt, auf dem Sofa, umringt von vier oder fünf Kindern. Er war ordentlich rasiert, in ein frisches Leinennachthemd gekleidet und trug den Arm in einer Schlinge. Neben ihm standen Janet, der junge Ian und ein lächelnder junger Mann, der, wenn man die Form seiner Nase genau betrachtete, wohl auch dem Fraser-Clan angehörte, ansonsten aber so gut wie keine Ähnlichkeit mit dem kleinen Jungen besaß, den ich zuletzt vor zwanzig Jahren in Lallybroch gesehen hatte.
»Da kommt sie!« rief Jamie erfreut, als er mich sah, woraufhin sich der ganze Raum voll Leute zu mir umwandte.
»Erinnerst du dich noch an den jungen Jamie?« fragte Jamie, der Ältere, und deutete mit dem Kopf auf den großen, breitschultrigen jungen Mann mit dem gelockten schwarzen Haar und einem strampelnden Bündel im Arm.
»Ja, die Locken erkenne ich wieder«, antwortete ich lächelnd. »Der Rest hat sich ein bißchen verändert.«
Der junge Mann grinste mich an. »Ich entsinne mich noch gut an dich, Tante«, sagte er mit warmer, weicher Stimme. »Ich saß auf deinem Schoß, und du hast ›Zehn kleine Schweinchen‹ mit meinen Zehen gespielt.«
»Das ist doch nicht möglich!« erwiderte ich entsetzt.
»Magst du es vielleicht bei dem kleinen Benjamin machen?« schlug er lächelnd vor. »Bestimmt fällt es dir dann wieder ein.« Er beugte sich vor und legte mir das Bündel vorsichtig in den Arm.
Benjamin schien ein wenig verdutzt, als sich ein fremdes Gesicht über ihn neigte, zeigte aber keine Spur von Mißfallen. Statt dessen öffnete er das rosa Mündchen sperrangelweit, schob seine Faust hinein und kaute nachdenklich darauf herum.
Ein kleiner blonder Junge in Tweedhosen lehnte an Jamies Knie und sah mich staunend an. »Wer ist das, Nunkie?« fragte er laut flüsternd.
»Das ist deine Großtante Claire«, antworte Jamie ernst. »Du hast doch gewiß schon von ihr gehört, oder?«
»Aye«, sagte der Junge und nickte heftig. »Ist sie so alt wie die Oma?«
»Noch älter«, entgegnete Jamie feierlich. Der Kleine starrte
mich einen Moment an und wandte sich dann mit verächtlicher Miene zu Jamie.
»Erzähl mir keine Märchen, Nunkie! Sie sieht längst nicht so alt aus wie Oma! Ihre Haare sind doch nur ein bißchen grau.«
»Danke, mein Kind.« Ich strahlte ihn an.
»Ist sie wirklich unsere Großtante Claire?« Der Junge ließ nicht locker und blickte mich immer noch zweifelnd an. »Mama sagt, daß Großtante Claire vielleicht sogar eine Hexe war, aber diese Dame sieht eigentlich gar nicht wie eine aus. Sie hat ja nicht mal eine einzige Warze auf der Nase!«
»Danke«, sagte ich noch einmal, wenn auch etwas kühler. »Und wie heißt du?«
Doch jetzt barg er nur schüchtern den Kopf in Jamies Ärmel und verweigerte die Antwort.
»Er heißt Angus Walter Edwin Murray Carmichael«, antwortete Jamie für ihn, während er dem Kleinen das seidige Haar zerzauste. »Maggies ältester Sohn. Die meisten nennen ihn Wally.«
»Wir nennen ihn Rotznase«, klärte mich ein kleines rothaariges Mädchen auf, das neben mir stand. »Weil seine Nase immer voller Schnodder ist.«
Blitzartig schnellte Angus Walters puterroter Kopf aus den Hemdfalten seines Onkels, und er funkelte seine Verwandte an.
»Stimmt gar nicht!« schrie er. »Nimm das zurück!« Ohne abzuwarten, ob sie dazu willens war oder nicht, stürzte er mit geballten Fäusten auf sie zu, wurde jedoch von seinem Großonkel am Kragen gepackt und zurückgezogen.
»Man schlägt keine Mädchen«, erklärte er ihm. »Das ist unmännlich.«
»Aber sie hat gesagt, ich bin voller Rotz!« heulte Angus Walter. »Ich muß sie hauen!«
»Und, Mistress Abigail, es ist nicht besonders höflich, sich über das Aussehen eines andern auszulassen«, wies er das Mädchen entschieden zurecht. »Du solltest dich bei deinem Cousin entschuldigen.«
»Aber er ist doch…« beharrte Abigail. Jamies strenger Blick ließ sie verstummen. Mit hochrotem Gesicht senkte sie die Augen und murmelte: »Entschuldige, Wally.«
Aber Wally wollte sich mit dieser Entschuldigung nicht zufriedengeben.
Sie war beileibe keine
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