Ferne Ufer
hat der schottische Dezember nicht zu bieten - als die Artemis bei Cape Wrath an der Nordwestküste anlegte.
Ich spähte aus dem Tavernenfenster in den dichten Nebel hinaus, der die Küste verhüllte. Die triste Landschaft erinnerte an die Gegend bei den Seehundinseln. Es roch nach modrigem Tang, und das Donnern der Brecher war so laut, daß man sich selbst in dem kleinen Wirtshaus am Kai kaum verständigen konnte. Ian war vor einem Monat entführt worden. Nun war Weihnachten verstrichen, und wir saßen immer noch in Schottland fest, nur wenige Meilen von den Seehundinseln entfernt.
Trotz des kalten Regens ging Jamie draußen im Hafen auf und ab, weil er es drinnen am Feuer nicht aushielt. Die Seereise von Frankreich zurück nach Schottland hatte er nicht besser ertragen als die erste Kanalüberquerung, und die Aussicht, zwei bis drei Monate auf der Artemis zu verbringen, erfüllte ihn mit Grauen. Andererseits war sein Eifer, die Entführer zu verfolgen, so groß, daß ihn jede Verzögerung zutiefst beunruhigte. Mehr als einmal war ich nachts aufgewacht und hatte festgestellt, daß er aufgestanden war und allein durch die Straßen von Le Havre wanderte.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, daß er für diese letzte Verzögerung selbst verantwortlich war. Wir hatten Cape Wrath angelaufen, um Fergus und eine Gruppe von Schmugglern an Bord zu nehmen. Jamie hatte Fergus vor unserer Abreise nach Le Havre losgeschickt, um einige seiner Männer zu holen.
»Schwer zu sagen, was wir in Westindien vorfinden, Sassenach«, hatte Jamie erklärt. »Ich habe nicht vor, es allein mit einer Schiffsladung Piraten aufzunehmen, und wenn ich kämpfen muß, will ich
Männer an meiner Seite haben, die ich kenne.« Die Schmuggler waren allesamt Küstenbewohner, die mit der Schiffahrt und dem Ozean vertraut waren. Sie sollten auf der Artemis anheuern - uns fehlten sowieso einige Matrosen.
Cape Wrath war ein kleiner Hafen, in dem um diese Jahreszeit nicht viel los war. Außer der Artemis lagen nur ein paar Fischerboote und eine Ketsch an dem hölzernen Kai. Es gab jedoch ein kleines Wirtshaus, in dem die Mannschaft der Artemis vergnügt die Wartezeit verbrachte. Die Männer, die keinen Platz mehr in der Gaststube fanden, drängten sich unter der Traufe und schütteten krügeweise das Ale hinunter, das ihnen ihre Kameraden durchs Fenster hinausreichten. Jamie kam nur zu den Mahlzeiten herein. Dann setzte er sich ans Feuer, und die Dampfwolken, die aus seiner nassen Kleidung aufstiegen, schienen von dem Ärger zu künden, der in ihm schwelte.
Fergus verspätete sich. Aber außer Jamie und Jareds Kapitän machte das Warten offenbar niemandem etwas aus. Kapitän Raines, ein untersetzter älterer Mann, verbrachte den Großteil seiner Zeit an Deck des Schiffes, beobachtete den wolkenverhangenen Himmel und behielt sein Barometer im Auge.
»Das Zeug riecht aber kräftig, Sassenach«, bemerkte Jamie bei einem seiner kurzen Besuche in der Schankstube. »Was ist das?«
»Frischer Ingwer«, entgegnete ich und hielt ihm den Rest der Wurzel hin, die ich gerade rieb. »In meinen Kräuterbüchern steht, das sei das beste Mittel gegen Seekrankheit.«
»Ach wirklich?« Er nahm die Schale, schnupperte daran und nieste zur Belustigung der Zuschauer explosionsartig. Ich entriß ihm die Schüssel, bevor er den Inhalt verschüttete.
»Ingwer schnupft man nicht«, erklärte ich, »man trinkt ihn als Tee. Und ich hoffe inständig, daß es hilft, denn andernfalls bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als dich mit dem Bilgenwasser über Bord gehen zu lassen.«
»Ach, keine Sorge, Missus«, meinte ein alter Seebär, der unser Gespräch mit angehört hatte. »Viele von den grünen Jungs fühlen sich die ersten ein, zwei Tage ein bißchen komisch. Aber am dritten Tag haben sie sich an den Seegang gewöhnt, und dann hängen sie oben in der Takelage, fröhlich wie die Lerchen.«
Ich sah Jamie an, der im Augenblick wenig Ähnlichkeit mit einer
Lerche besaß. Dennoch schien er bei dieser Bemerkung Mut zu schöpfen, denn seine Miene hellte sich auf, und er bestellte bei der überlasteten Kellnerin einen Becher Ale.
»Das kann sein«, entgegnete er. »Jared behauptet dasselbe - daß die Seekrankheit im allgemeinen nur ein paar Tage dauert, vorausgesetzt, der Seegang ist nicht zu stark.« Er nippte an seinem Ale und nahm dann etwas zuversichtlicher noch einen Schluck. »Drei Tage werde ich schon aushalten.«
Am zweiten Tag tauchten spätabends sechs
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