Ferne Ufer
befriedigt auf den besorgten Gesichtern der anderen zur Ruhe kamen.
»Sie wird aber selig werden dadurch, daß sie Kinder zur Welt bringt…«, las sie. Kitty brach in verzweifeltes Schluchzen aus. Maggie Ellen wurde rot, während bei ihrem älteren Bruder alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
»Mrs. Kirby«, sagte Jamie. »Würden Sie bitte aufhören!«
Die Worte waren höflich, doch in seinen Augen lag derselbe Ausdruck, den Jehu vor seinem Salto auf dem Hof gesehen hatte. Mrs. Kirby schnappte nach Luft und ließ die Bibel fallen.
»Ihr geht jetzt alle besser in die Küche und macht euch nützlich«, wies er sie an. Sukie, die Küchenmagd, flatterte davon. Mit weitaus mehr Würde, aber ohne zu zögern, stand Mrs. Kirby auf und folgte ihr.
Beflügelt von seinem Sieg, teilte Jamie den anderen gleichfalls Aufgaben zu. Witwe Murray und ihre drei Töchter sollten sich des Waschkessels annehmen, und die kleineren Kinder mußten unter Mary MacNabs Aufsicht die Hühner einfangen. Und die älteren Jungen zogen offensichtlich erleichtert davon, um das Vieh zu versorgen.
Als sich der Raum geleert hatte, blieb Jamie stehen und überlegte, was er selbst tun sollte. Er mußte im Haus bleiben und Wache halten, obwohl er - wie Jenny ihm klargemacht hatte - nicht weiter helfen konnte. Im Hofeingang stand ein fremdes Maultier mit Fußfesseln, also war die Hebamme wahrscheinlich schon oben bei seiner Schwester.
Da er nicht stillsitzen konnte, schlenderte er mit der Bibel in der Hand durch das Wohnzimmer und besah sich die vertrauten Dinge: Jennys Bücherregal, das beim letzten Einfall der Rotröcke vor drei Monaten lauter Dellen und Schrammen davongetragen hatte, und den großen, silbernen Tafelaufsatz, der wohl zu schwer gewesen war, um im Rucksack eines Soldaten fortgetragen zu werden. Ohnehin hatten die Engländer nicht viel ergattert, denn die wenigen Wertsachen und der kleine Goldvorrat lagen sicher verwahrt bei Jareds Wein im Priesterloch.
Als er von oben ein Stöhnen hörte, fiel sein Blick unwillkürlich auf die Bibel. Er schlug sie auf und las die Eintragungen auf den ersten Seiten, wo die Hochzeiten, Geburten und Todesfälle der Familie verzeichnet waren.
Zuoberst die Hochzeit seiner Eltern, Brian Fraser und Ellen MacKenzie. Namen und Daten waren in der sauberen, runden Handschrift seiner Mutter festgehalten, doch darunter stand in den resoluten Buchstaben seines Vaters: Zusammengeführt durch die Liebe. Eine treffende Ergänzung, wenn man den nächsten Eintrag - Willies Geburt kaum zwei Monate nach der Hochzeit - las.
Wie immer mußte Jamie bei diesen Worten lächeln. Er blickte auf das Gemälde, das ihn im Alter von zwei Jahren neben Willie und Nairn, dem großen Jagdhund, zeigte. An Willie, der mit elf
Jahren an den Pocken gestorben war, erinnerte sonst nichts mehr im Haus. In der Leinwand des Gemäldes klaffte ein Loch - wahrscheinlich das Werk eines Bajonetts, mit dem der Besitzer der Waffe seiner Enttäuschung Luft gemacht hatte.
»Wenn du nicht gestorben wärst«, fragte er leise seinen Bruder auf dem Bild, »was wäre dann wohl geschehen?«
Ja, was wohl? Da fiel sein Blick auf den letzten Eintrag. Caitlin Maisri Murray, geboren am 3. Dezember 1749, gestorben am 3. Dezember 1749. Aye, was? Wenn die Rotröcke nicht am 2. Dezember ins Haus gestürmt wären, wäre Jennys Kind dann auch zu früh geboren worden? Wenn Jenny genug zu essen gehabt und nicht wie die anderen auch nur aus Haut und Knochen bestanden hätte, wäre es dann anders gekommen?
»Das werden wir nie erfahren«, sagte er zu dem Bild. Auf dem Gemälde lag Willies Hand auf seiner Schulter, und er wußte noch, wie sicher er sich immer gefühlt hatte, wenn Willie in seiner Nähe war.
Wieder kam ein Schrei von oben, und ihn überkam plötzlich Angst.
»Bete für uns, Bruder!« flüsterte er und bekreuzigte sich. Dann legte er die Bibel hin und ging zur Scheune, um bei den Tieren zu helfen.
Aber dort gab es nicht viel für ihn zu tun. Für Rabbie und Fergus war es ein leichtes, die wenigen Tiere zu versorgen, die sie noch besaßen, und der zehnjährige Jamie konnte ihnen schon gut zur Hand gehen. Um sich zu beschäftigen, sammelte Jamie verstreutes Heu vom Boden und brachte es zum Maultier der Hebamme. Wenn das Heu aufgebraucht war, würden sie die Kuh schlachten müssen, denn für sie gab es in den winterlichen Bergen nicht mehr genug Futter, selbst wenn man die Kinder ausschickte, um Gras und Kräuter zu sammeln. Mit etwas Glück
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