Ferne Ufer
Haaransatz, als Du erst einige Stunden alt warst, bis hin zu dem unebenen Nagel am großen Zeh, den Du Dir letztes Jahr gebrochen hast, als Du nach dem Streit mit Jeremy gegen die Tür seines Lieferwagens getreten hast.
Bei Gott, es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, daß es nun vorbei ist - daß ich all die kleinen Veränderungen nicht mehr wahrnehmen kann. Aber erinnern werde ich mich immer, Brianna.
Wahrscheinlich gibt es niemanden auf Erden, der weiß, wie Deine Ohren aussahen, als Du drei Jahre alt warst. Ich saß oft neben Dir, las Dir Märchen vor und sah, wie Deine Ohren vor Freude glühten. Deine Haut war so hell und empfindlich, daß ich dachte, eine Berührung würde Fingerabdrücke darauf hinterlassen.
Ich sagte Dir, daß Du wie Jamie aussiehst. Du hast aber auch etwas von mir. Sieh Dir das Bild meiner Mutter in der Schachtel an und die kleine Schwarzweißaufnahme von ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Du hast, genau wie ich, ihre breite, hohe Stirn geerbt.
Paß gut auf Dich auf, Brianna - ach, ich wünschte - ich wünschte, ich könnte auf Dich aufpassen und Dich Dein Leben lang beschützen, aber das kann ich nicht, ob ich nun bleibe oder gehe. Paß aber gut auf Dich auf - um meinetwillen.
Meine Tränen tropften auf den Brief; ich mußte eine Pause einlegen und sie mit Löschpapier trocknen, damit die Worte nicht völlig unleserlich wurden.
Eines sollst Du wissen, Brianna - ich bereue nichts. Trotz allem bereue ich es nicht. Du weißt jetzt, wie einsam ich ohne Jamie war. Aber es ist nicht wichtig. Wenn der Preis unserer Trennung Dein Leben war, so können weder Jamie noch ich es je bereuen - ich weiß, er hätte nichts dagegen, daß ich für ihn spreche. Brianna… Du bist meine Freude. Du bist vollkommen, Du bist wunderbar - ich höre, wie Du jetzt ärgerlich sagst: »Natürlich glaubst du das - du bist meine Mutter!« Ja, genau deshalb weiß ich es.
Brianna, Du bist jedes Opfer wert - und mehr. Ich habe in meinem Leben vieles getan, aber das Wichtigste von allem war meine Liebe zu Deinem Vater und zu Dir.
Ich putzte mir die Nase und griff nach einem leeren Blatt Papier. Ich konnte niemals alle meine Gefühle ausdrücken, aber ich hatte mein Bestes getan. Was konnte ich noch hinzufügen, was würde ihr im Leben, beim Erwachsenwerden und beim Altwerden von Nutzen sein? Welche Erfahrungen hatte ich gemacht, die ich ihr weitergeben konnte?
Such Dir einen Mann, der Deinem Vater gleicht , schrieb ich, einem Deiner Väter . Ich schüttelte den Kopf - gab es zwei Männer, die unterschiedlicher waren? -, ließ es aber stehen, weil ich an Roger Wakefield dachte. Wenn Du Dich für einen Mann entschieden hast, versuch nicht, ihn zu ändern , schrieb ich mit größerem Selbstvertrauen. Es geht nicht. Noch wichtiger - laß nicht zu, daß er versucht, Dich zu ändern. Er kann es auch nicht, aber Männer versuchen es immer .
Ich kaute an meinem Füller und schmeckte das bittere Aroma der Tusche. Schließlich schrieb ich den letzten und besten Rat, den ich zum Thema Altwerden wußte.
Halt Dich gerade und versuche, nicht fett zu werden.
In Liebe
Mama
Jamie lehnte an der Reling. Seine Schultern bebten, ob vor Lachen oder vor Rührung, wußte ich nicht. Sein Leinenhemd leuchtete weiß im matten Licht, und sein Kopf zeichnete sich dunkel vom Mond ab. Schließlich wandte er sich um und zog mich an sich.
»Ich glaube, sie wird sich wacker schlagen«, flüsterte er. »Denn ganz gleich, was für ein armer Einfaltspinsel sie gezeugt hat, kein Mädel auf der Welt hat eine bessere Mutter.
Küß mich, Sassenach, und glaube mir - ich würde dich um nichts in der Welt ändern wollen.«
43
Phantomschmerzen
Seit unserer Abreise aus Schottland hatten Fergus, Mr. Willoughby und ich die sechs Schmuggler im Auge behalten, aber keiner von ihnen benahm sich irgendwie verdächtig, und nach einer Weile ertappte ich mich dabei, daß meine Wachsamkeit nachließ. Nur gegen einen von ihnen hatte ich keine Vorbehalte. Mir war schließlich klargeworden, warum ihn weder Fergus noch Jamie für einen Verräter hielten. Als Einarmiger war Innes der einzige unter den Schmugglern, der nicht in der Lage gewesen wäre den Zöllner an der Straße bei Arbroath aufzuhängen.
Innes war ein schweigsamer Mensch. Man konnte zwar keinen der Schotten als redselig bezeichnen, aber selbst im Vergleich zu ihnen war er äußerst zurückhaltend. Deshalb überraschte es mich nicht, als ich ihn eines Morgens mit verzerrtem Gesicht über
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