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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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bei mir gab es wenig zu sammeln. Die Papiere einer kleinen Familie - die Geburtsurkunden von mir und meinen Eltern, ihr Trauschein, die Zulassung für das Auto, in dem sie umgekommen waren - welche verrückte Laune hatte Onkel Lambert bewogen, sie aufzubewahren? Wahrscheinlich hatte er die Schachtel nie aufgemacht, sondern sie nur aufgehoben - in der blinden Überzeugung des Gelehrten, daß Informationen nie vernichtet werden dürfen - vielleicht würden sie irgendwann einmal gebraucht.
    Natürlich hatte ich mir den Inhalt schon früher angesehen. Als junges Mädchen hatte ich manchmal Abend für Abend die wenigen Fotos betrachtet, die ich in der Schachtel fand. Ich erinnerte mich an die schmerzliche Sehnsucht nach der Mutter, die ich nicht kannte, an die vergeblichen Versuche, sie mir vorzustellen, sie anhand der kleinen, matten Bilder in der Schachtel wieder lebendig werden zu lassen.
    Am besten hatte mir immer eine Nahaufnahme von ihr gefallen: ihre warmen Augen, ihr feiner Mund, ihr Lächeln unter dem Glockenhut aus Filz. Die Fotografie war handkoloriert, ihre Wangen und Lippen unnatürlich rosarot, die Augen braun. Onkel Lamb sagte, das sei falsch; ihre Augen seien golden gewesen, so wie meine.
    Ich dachte, für Brianna sei die Zeit, in der sie ihre Mutter wirklich brauchte, schon vorbei, aber ich war mir nicht sicher. Eine Woche zuvor hatte ich eine Atelieraufnahme von mir machen lassen, sie in die Schachtel gelegt und diese mitten auf meinen Schreibtisch gestellt; da würde Brianna sie finden. Dann hatte ich mich hingesetzt und zu schreiben begonnen.

    Meine liebe Brianna -, schrieb ich und hielt inne. Ich konnte nicht. Wie hatte ich auch nur daran denken können, mein Kind zu verlassen? Die drei schwarzen Wörter auf dem Papier rückten diese wahnsinnige Idee ins kalte Licht der Vernunft, und es traf mich bis ins Mark.
    Meine Hand mit dem Füller zitterte über dem Papier. Ich legte ihn weg, klemmte die Finger zwischen die Schenkel und schloß die Augen.
    »Reiß dich zusammen, Beauchamp«, murmelte ich. »Schreib das verdammte Ding, bring es hinter dich. Wenn sie es nicht braucht, schadet es niemandem, und wenn sie es braucht, ist es da.« Ich nahm den Füller und begann noch einmal.
    Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief je lesen wirst, aber vielleicht ist es ja ganz gut, das alles festzuhalten. Ich will Dir erzählen, was ich über Deine Großeltern (Deine echten), Deine Urgroßeltern und die Krankheiten, die Du durchgemacht hast, weiß…
    Ich schrieb eine Zeitlang und füllte eine Seite nach der anderen. Die Anstrengung, mich zu erinnern und alles klar und deutlich festzuhalten, ließ mich ruhiger werden. Dann hielt ich inne und dachte nach.
    Was konnte ich ihr noch mitteilen, abgesehen von diesen blutleeren Tatsachen? Wie konnte ich das bescheidene Wissen weitergeben, das ich in achtundvierzig Jahren eines ziemlich ereignisreichen Lebens gesammelt hatte? Gequält verzog ich den Mund. Gab es Töchter, die auf ihre Mutter hörten? Hätte ich es getan, wenn meine Mutter mir etwas erzählt hätte?
    Doch das spielte keine Rolle. Ich würde meine Eingebungen festhalten, damit Brianna nötigenfalls darauf zurückgreifen konnte.
    Aber was war echt, was würde die Moden und Zeiten überdauern, was würde ihr von Nutzen sein? Und vor allem, wie sollte ich ihr sagen, wie sehr ich sie liebte?
    Die Ungeheuerlichkeit meiner Aufgabe überwältigte mich, und ich umklammerte den Füller. Ich konnte nicht gleichzeitig klar denken und diesen Brief verfassen. Es blieb mir nur, den Stift aufs Papier zu setzen und zu hoffen.

    Du bist mein Mädchen und wirst es immer sein. Was das bedeutet, wirst Du erst erfahren, wenn Du ein eigenes Kind hast, aber jetzt sage ich Dir - Du wirst immer ein Teil von mir sein, so wie damals, als ich mit Dir schwanger war und Deine Bewegungen in mir spürte. Immer.
    Wenn ich Dich schlafen sehe, denke ich an all die Nächte, in denen ich Dich zudeckte, in denen ich im Dunkeln hereinkam und Deinem Atem lauschte, mit meiner Hand spürte, wie sich Deine Brust hob und senkte, und wußte, daß, ganz gleich, was geschieht, alles in Ordnung ist, weil Du lebst.
    Alle Namen, die ich Dir im Lauf der Jahre gegeben habe - Häschen, Tolpatsch, Täubchen, Liebling, Süße, Kleine, Schatz… Ich weiß, warum die Juden und Muslime neunhundert Namen für Gott kennen: Ein kleines Wort ist nicht genug für die Liebe. Jede Kleinigkeit an Dir hat sich in mir eingeprägt, angefangen mit dem goldenen Flaum an Deinem

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