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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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zuckte die Achseln.
    »Ich weiß nicht«, entgegnete er kraftlos. »Das habe ich mich heute nacht tausendmal gefragt - und wurde noch öfter danach gefragt.« Er rieb sich heftig über die Stirn.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand so etwas tut. Und dennoch… nun, du weißt ja, wozu er fähig ist, wenn er getrunken hat, und er hat ja schon einmal jemanden in diesem Zustand umgebracht. Erinnerst du dich an den Zollbeamten im Bordell?« Ich nickte. Jamie beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände.
    »Aber dies ist etwas anderes«, meinte er. »Ich weiß nicht so recht - aber vielleicht ja doch. Du hast gehört, was er an Bord über Frauen gesagt hat. Und wenn diese Mrs. Alcott tatsächlich mit ihm geliebäugelt hat…« »Das hat sie«, warf ich ein. »Ich habe es gesehen.«
    Er nickte, ohne aufzublicken. »Und etliche andere auch. Aber wenn sie ihm das Gefühl gegeben hat, ihr sei die Sache ernster, als sie es in Wirklichkeit war, und sie ihn dann vielleicht abgewiesen und womöglich sogar ausgelacht hat… und sternhagelvoll, wie er war… und überall an den Wänden hingen die Messer griffbereit…« Seufzend setzte er sich aufrecht hin.
    »Gott weiß es«, sagte er düster. »Ich nicht.« Er strich sich mit der Hand das Haar glatt.
    »Und noch was: Ich habe ihnen gesagt, ich hätte Willoughby kaum gekannt, daß wir uns auf dem Postschiff kennengelernt hätten, das von Martinique gekommen war, und ich sagte, daß wir nett zu ihm sein wollten und ihn daher allen möglichen Leuten vorgestellt haben, ohne zu wissen, woher er stammt oder was für einen Kerl wir tatsächlich vor uns hatten.«
    »Haben sie dir das abgenommen?«
    Er sah mich schief an.
    »Ja, fürs erste, aber das Postschiff kehrt in sechs Tagen wieder in den Hafen zurück - dann werden sie den Kapitän verhören und
feststellen, daß er Monsieur Etienne Alexandre und seine Frau nie zu Gesicht bekommen hat, geschweige denn einen winzigen, gelbgesichtigen, mordenden Teufel.«
    »Das könnte in bißchen unangenehm werden«, bemerkte ich und dachte an Fergus und den Milizsoldaten. »Wir haben uns wegen Mr. Willoughby bereits ziemlich unbeliebt gemacht.«
    »Gar nicht auszudenken, wie wir dastehen, wenn die sechs Tage abgelaufen sind und sie ihn immer noch nicht gefunden haben«, bestätigte er. »Wahrscheinlich wird es auch nicht länger als sechs Tage dauern, bis es sich vom Blue Mountain House bis nach Kingston herumspricht, wer bei den MacIvers zu Besuch ist - du weißt ja, die Dienstboten wissen allesamt, wer wir sind.«
    »Verdammt.«
    Sein Lächeln brachte mein Herz zum Schmelzen.
    »Du kannst die Dinge so nett in Worte fassen, Sassenach. Also, das heißt, wir müssen Ian binnen sechs Tagen finden. Ich mache mich sofort auf den Weg nach Rose Hall. Aber erst muß ich mich ein wenig ausruhen.« Er gähnte herzhaft hinter vorgehaltener Hand und schüttelte zwinkernd den Kopf.
    Wir schwiegen, bis wir das Blue Mountain House erreicht hatten und auf Zehenspitzen in unser Zimmer geschlichen waren.
    Ich ließ im Ankleidezimmer das schwere Korsett zu Boden fallen und löste die Nadeln aus meiner Frisur.
    Mit einem Seidenhemd bekleidet, ging ich ins Schlafzimmer, wo Jamie im Hemd an der Flügeltür stand und über die Lagune blickte.
    Als er mich hörte, winkte er mich zu sich und legte den Finger auf die Lippen.
    »Komm her, sieh mal«, flüsterte er.
    In der Lagune schwamm eine kleine Herde Seekühe. Massige graue Körper glitten durch das dunkle, kristallfarbene Wasser und tauchten glänzend wie glatte, nasse Felsen auf. Außer dem Morgengezwitscher, das die Vögel unweit des Hauses soeben anstimmten, war nur das Prusten der nach Luft schnappenden Seekühe zu hören und dann und wann ihre gespenstischen Rufe, die einem hohlen, weit entfernten Jammern ähnelten.
    Seite an Seite beobachteten wir sie schweigend. Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Wasserfläche trafen, färbte sich die Lagune
grün. In diesem Zustand höchster Erschöpfung, in dem man jede Empfindung übernatürlich stark wahrnimmt, war ich mir Jamies Anwesenheit so bewußt, als würde ich ihn berühren.
    John Greys Enthüllungen hatten fast all meine Befürchtungen und Zweifel zerstreut. Nur etwas blieb ungeklärt: Warum hatte Jamie mir nichts von seinem Sohn erzählt? Natürlich besaß er gute Gründe für seine Verschwiegenheit, aber dachte er etwa, ich könnte sein Geheimnis nicht bewahren? Vielleicht, so schoß es mir durch den Kopf,

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