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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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hatte er ja wegen der Mutter des Knaben geschwiegen. Womöglich hatte er sie doch geliebt, und Grey hatte die Beziehung falsch eingeschätzt.
    Sie war tot. War es von Bedeutung, wenn er sie geliebt hatte? Die Antwort lautete: ja. Ich hatte Jamie zwanzig Jahre lang für tot gehalten, und es hatte an meiner Zuneigung zu ihm nichts geändert. Vielleicht hatte Jamie ähnlich für dieses englische Mädchen empfunden. Ich schluckte und beschloß, ihn geradeheraus zu fragen.
    Er hatte die Stirn gekraust und sah abwesend aus.
    »Was denkst du?« fragte ich ihn schließlich. Ich brachte einfach nicht den Mut auf, die Frage zu stellen, die mir auf der Seele lag.
    »Mir ist gerade ein Gedanke gekommen«, antwortete er und starrte immer noch zu den Seekühen hinüber. »Im Zusammenhang mit Willoughby.«
    Die zurückliegenden Ereignisse schienen weit entfernt und unbedeutend. Aber es war schließlich ein Mord geschehen.
    »Und was?«
    »Tja, zunächst hatte ich mir nicht vorstellen können, daß Willoughby so etwas tun könnte. Wie ist überhaupt jemand zu einer solchen Tat imstande?« Er hielt inne und fuhr mit dem Finger über die Fensterscheibe, die durch die Wärme der aufgehenden Sonne beschlagen war. »Aber…« Er wandte das Gesicht zu mir.
    »Nun könnte ich es mir doch vorstellen.« Er sah besorgt aus. »Er war allein. Sehr allein.«
    »Ein Fremder in einem fremden Land«, sagte ich leise und erinnerte mich an die Verse, die er mit schwarzer Tinte geschrieben und dann dem Meer anvertraut hatte.
    »Genau.« Er strich sich durchs Haar, das im Tageslicht kupferfarben leuchtete. »Das einzige, was einen Mann seine Einsamkeit vergessen läßt, ist, bei einer Frau zu liegen.«

    Er blickte auf seine Hände, drehte die Innenflächen nach außen und strich sich mit dem Zeigefinger der linken Hand über den vernarbten Mittelfinger.
    »Deshalb habe ich Laoghaire geheiratet«, sagte er leise. »Nicht weil Jenny mich gedrängt hat. Nicht weil ich Mitleid hatte mit den beiden kleinen Mädchen. Nicht einmal, weil meine Eier schmerzten.« Er verzog den Mund. »Sondern weil ich vergessen wollte, daß ich allein war«, schloß er leise.
    Er drehte sich wieder zum Fenster.
    »Falls der Chinese zu ihr gegangen ist - mit dieser Sehnsucht, diesem Bedürfnis - und von ihr abgewiesen wurde…« Er zuckte die Achseln und starrte über das kühle Grün der Lagune hinweg. »Aye, möglicherweise hat er es getan«, sagte er.
    Ich stand neben ihm. Mitten in der Lagune erhob sich eine Seekuh aus dem Wasser, drehte sich auf den Rücken und wandte das Junge auf ihrer Brust der Sonne zu.
    Er schwieg eine Weile, und ich wußte nicht, wie ich das Gespräch auf das lenken konnte, was ich im Gouverneurspalast gesehen und gehört hatte.
    Er schluckte und wandte sich mir zu. Sein Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet, aber in seinem Blick lag eine Entschlossenheit, die er immer an den Tag legte, wenn er sich auf einen Kampf einließ.
    »Claire«, sagte er, und ich erstarrte. Er nannte mich nur dann bei meinem Namen, wenn es um etwas Ernstes ging. »Claire, ich muß dir etwas sagen.«
    »Was?« Ich hatte darüber nachgedacht, wie ich die Frage formulieren sollte, aber plötzlich wollte ich nichts hören. Ich trat einen halben Schritt zurück, weg von ihm, aber er packte mich am Arm.
    Er hielt etwas in seiner Faust verborgen, das er jetzt in meine Hand legte. Ohne hinzusehen, wußte ich, was es war. Ich fühlte die Schnitzereien des zarten ovalen Rahmens und die rauhe Oberfläche des Gemäldes.
    »Claire.« Seine Kehle zitterte, als er schluckte. »Claire… ich muß es dir sagen. Ich habe einen Sohn.«
    Ich erwiderte nichts, sondern öffnete nur die Hand. Da war es wieder - das Gesicht, das ich bereits in Greys Arbeitszimmer betrachtet
hatte, die kindliche, ein wenig naseweise Kopie des Mannes mir gegenüber.
    »Ich hätte dir früher von ihm erzählen sollen.« Er forschte in meinem Gesicht, was ich wohl empfinden mochte, aber ausnahmsweise waren meine Züge, von denen sich sonst jede Gefühlsregung ablesen ließ, ausdruckslos.
    »Ich habe niemandem von ihm erzählt«, sagte er. »Nicht einmal Jenny.«
    Das wunderte mich so sehr, daß ich herausplatzte: »Jenny weiß nichts davon?«
    Er schüttelte den Kopf und blickte wieder zu den Seekühen. Aufgeschreckt durch unsere Stimmen, hatten sie sich etwas weiter entfernt erneut niedergelassen und taten sich am Seegras gütlich.
    »Es war in England. Es… er ist… na ja, ich konnte nicht sagen, daß er von mir

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