Ferne Ufer
einen Jungen mit einem gebrochenen Arm? Sie haben ihn wieder geheilt.« Er hob einen Arm zur Veranschaulichung.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« Ich griff nach dem Weinbrand und nahm einen großen Schluck, bis ich husten und keuchen mußte. Mit Tränen in den Augen sah ich ihn an. Jetzt, da ich wußte, wer er war, erkannte ich die schmale Statur und die zarteren, weicheren Konturen des Jungen wieder, der er einst gewesen war.
»Bis dahin hatte ich noch nie die Brüste einer Frau gesehen«, sagte er. »Es war ein ziemlicher Schock für mich.«
»Von dem Sie sich aber offensichtlich recht gut erholt haben«, entgegnete ich kühl. »Aber anscheinend haben Sie Jamie vergeben, daß er Ihnen den Arm gebrochen und gedroht hat, Sie zu erschießen.«
Er errötete und setzte sein Glas ab.
»Ich… nun… ja«, stammelte er plötzlich.
Wir saßen eine Weile schweigend da, nicht wissend, was wir miteinander reden sollten. Ein- oder zweimal holte er Luft, als wolle er zum Sprechen ansetzen, aber er sagte nichts. Schließlich schloß er die Augen, als befehle er seinen Geist in Gottes Hände, öffnete sie wieder und sah mich an.
»Wissen Sie…«, begann er und hielt inne. Er richtete den Blick nicht auf mich, sondern auf seine zu Fäusten geballten Hände. Ein blauer Stein glitzerte an einem Finger und glänzte wie eine Träne.
»Wissen Sie…«, sagte er erneut, ohne aufzublicken, »was es heißt, jemanden zu lieben und ihm niemals Frieden, Freude oder Glück schenken zu können?«
Er sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Zu wissen, daß man ihn niemals glücklich machen kann, obwohl beide keine Schuld trifft, sondern nur, weil man nicht der Richtige für den anderen ist?«
Ich schwieg. Ich hatte nicht sein, sondern ein anderes gutaussehendes Gesicht vor Augen, dunkelhaarig, nicht blond. Ich fühlte nicht die warme Tropennacht, sondern den eisigen Winter in Boston.
…sondern nur, weil man nicht der Richtige für den anderen ist .
»Ja, ich weiß es«, flüsterte ich und preßte die Hände im Schoß zusammen. Ich hatte zu Frank gesagt: Verlaß mich. Aber er konnte nicht, und ich konnte ihn nicht wahrhaftig lieben, nachdem ich der Liebe meines Lebens woanders begegnet war.
O Frank, sagte ich lautlos zu mir selbst. Vergib mir.
»Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie an das Schicksal glauben«, fuhr Lord John fort. Ein vages Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sie scheinen am besten geeignet, die Frage zu beantworten.«
»Sollte man meinen«, antwortete ich trübe. »Aber ich weiß es ebensowenig wie Sie.«
Er schüttelte den Kopf und nahm die Miniatur in die Hand.
»Ich nehme an, ich kann mich glücklicher als die meisten schätzen«, sagte er leise. »Etwas hat er von mir angenommen.« Seine Züge wurden weich, als er in das Gesicht des Jungen sah, das ihm aus der Miniatur entgegenblickte. »Und mir etwas von unschätzbarem Wert gegeben.«
Draußen näherten sich gedämpfte Schritte. Es klopfte kurz an die Tür, und ein Milizsoldat steckte den Kopf herein.
»Hat sich die Dame erholt?« fragte er. »Oberst Jacobs hat das Verhör beendet, und Monsieur Alexandres Kutsche ist vorgefahren.«
Hastig erhob ich mich.
»Ja, es geht mir gut.« Ich wandte mich zum Gouverneur um. Was sollte ich ihm sagen? »Ich… danke Ihnen für… das heißt…«
Er machte eine steife Verbeugung und trat hinter seinem Schreibtisch hervor, um mich hinauszubegleiten.
»Ich bedaure zutiefst, daß Sie ein derart schreckliches Erlebnis hatten, Mylady«, sagte er mit diplomatischem Bedauern in der Stimme. Er hatte seine offizielle Haltung wieder angenommen und wirkte so glatt wie seine Parkettböden.
Ich folgte dem Milizsoldaten, wandte mich jedoch an der Tür noch einmal um.
»Ich bin froh, daß Sie nicht wußten, wer ich bin, als wir uns in jener Nacht an Bord der Porpoise begegnet sind. Damals… haben Sie mir gefallen.«
Eine Sekunde wirkte er höflich und unerreichbar. Dann ließ er die Maske fallen.
»Sie mir auch«, sagte er leise. »Damals.«
Mir war, als wäre ich mit einem Fremden unterwegs. Der Morgen graute, und sogar in der düsteren Kutsche konnte ich nun Jamies erschöpftes Gesicht erkennen. Sobald wir uns vom Gouverneurspalast
etwas entfernt hatten, nahm er die lächerliche Perücke vom Kopf und verwandelte sich von dem gepflegten Franzosen zurück in den zerzausten Schotten.
»Glaubst du, daß er es war?« fragte ich schließlich, nur um etwas zu sagen.
Bei meinen Worten öffnete er die Augen und
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