Ferne Ufer
nicht los, Jamie! Wenn es mich erfaßt, kann ich nie wieder zurückkommen. Mit jedem Mal wird es schlimmer. Dann bringt es mich um, Jamie!«
Er schloß mich so fest in die Arme, daß ich meine Rippen knacken hörte und nach Luft schnappen mußte. Nach kurzer Zeit löste er die Umarmung, schob mich sanft zur Seite und ging an mir vorbei, darauf bedacht, mich keinen Augenblick loszulassen.
»Ich gehe als erster«, sagte er. »Halte dich an meinem Gürtel fest. Aber laß ihn um nichts in der Welt wieder los!«
So tasteten wir uns gemeinsam tiefer in die Dunkelheit. Stern hatte mit uns kommen wollen, doch das war Jamie nicht recht gewesen. So wartete er auf uns am Eingang der Höhle. Wenn wir nicht zurückkommen würden, sollte er an den Strand gehen und die Verabredung mit Innes und den anderen Schotten einhalten.
Wenn wir nicht zurückkommen würden…
Jamie merkte wohl, wie sehr meine Hand zitterte, denn er blieb stehen und zog mich an sich.
»Claire«, sagte er zärtlich, »ich muß dir etwas sagen.«
Ich wußte bereits, was es war, und wollte ihm den Mund zuhalten. Doch meine Hand fuhr ins Leere, und er ergriff sie.
»Wenn wir vor der Wahl stehen, sie oder einer von uns - dann bin ich das. Das ist dir doch klar, oder?«
Das war es. Wenn Geillis noch dort unten war und einer von uns sein Leben aufs Spiel setzen mußte, um sie aufzuhalten, dann würde Jamie das Wagnis eingehen. Denn wenn er starb und ich allein zurückblieb, konnte ich sie immer noch durch die Steine verfolgen, er jedoch nicht.
»Ja«, flüsterte ich nach kurzem Schweigen. Und wir wußten noch etwas anderes: Wenn Geillis bereits zurückgegangen war, würde ich ihr folgen müssen.
»Dann küß mich, Claire«, flüsterte er. »Du bedeutest mir mehr als mein Leben, und ich bedauere keinen Augenblick.«
Ich konnte nichts sagen. Und so küßte ich ihn; erst seine warme, feste Hand mit den verkrüppelten Fingern und das sehnige Gelenk des Schwertkämpfers. Und dann seinen Mund, der mir Zuflucht und Verheißung war, der seinen Schmerz verriet. Tränen mischten sich in unseren Kuß.
Dann ließ ich ihn los und wandte mich zu dem Gang, der links von uns abzweigte.
»Hier entlang«, sagte ich. Wir waren kaum zehn Schritte gegangen, als ich das Licht sah.
Zunächst nur ein blasser Schimmer auf den Felsen an unserer Seite, doch er genügte, um uns zu zeigen, daß wir unser Sehvermögen nicht eingebüßt hatten. Plötzlich erblickte ich wieder schwach meine Hände und Füße vor mir. Trotz meiner Angst schluchzte ich erleichtert auf. Ich fühlte mich wie ein Gespenst, das plötzlich Gestalt annimmt, als ich auf das Licht und den leisen Glockenklang zustolperte.
Jamie schirmte mit seinem breiten Rücken den helleren Schein vor mir ab, so daß ich nicht sehen konnte, was vor uns lag. Plötzlich duckte er sich unter einem Durchgang hindurch. Ich folgte ihm und stand im Licht.
Es war eine Kammer von beachtlicher Größe, deren rückwärtige Wände von der Dunkelheit verschluckt wurden. Doch in der Wand vor uns glitzerten und funkelten im Schein einer Fackel unzählige Mineralien.
»Bist du also gekommen!« Geillis kniete auf dem Boden und betrachtete angelegentlich den weißen Puder, den sie aus ihrer geschlossenen Hand in einer Linie auf den Boden rinnen ließ.
Jamie stöhnte halb erleichtert, halb besorgt auf, denn er hatte Ian erblickt. Der Junge lag mit gefesselten Händen und mit einem Knebel im Mund in dem Pentagramm auf der Seite. Neben ihm sah ich eine Axt. Sie war aus einem schimmernden, dunklen Stein gefertigt und hatte eine scharfe, blitzende Klinge. Ihren Griff überzog ein buntes afrikanisches Perlenmuster.
»Bleib, wo du bist, Rotfuchs!« Geillis ließ sich auf die Knie zurücksinken und zeigte Jamie ihre gebleckten Zähne - was jedoch keineswegs ein Lachen war. In der Hand hielt sie eine Pistole; eine zweite steckte in dem Ledergürtel an ihrer Taille.
Die Augen starr auf Jamie gerichtet, griff sie in ihre Gürteltasche und zog wieder eine Handvoll Diamantstaub hervor. Auf ihrer breiten, bleichen Stirn standen Schweißperlen; sie mußte das Glockendröhnen ebenso deutlich vernehmen wie ich. Mir war schlecht; der Schweiß rann mir in Strömen den Körper hinab und durchnäßte meine Kleider.
Das Muster war fast vollendet. Mit der Pistole im Anschlag zog sie eine dünne, schimmernde Linie, bis das Pentagramm geschlossen war. In seinem Inneren hatte sie bereits Steine ausgelegt - funkelnde Farbflecken, die durch eine glitzernde
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