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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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und durch die Fenstergitter die alten Gerätschaften beäugt, denn die Mühle selbst hatten wir nicht betreten dürfen. Sie liegt etwas außerhalb des Dorfs in einem Buchendickicht, an einem Bach mit moosbewachsenen Ufern, und gehört Verwandten von Adolfino, Rinos Dreikäsehoch-Onkel, die in Eboli wohnen. Ciano Puglise, genannt Motte, Adolfinos Vater, benutzt den Keller als Lager für seine Ware. Er klappert die verschiedenen Jahrmärkte ab und verkauft dort Käse - daher der atemberaubende Gestank. Adolfino ist ein kleiner, nervöser Typ und der tatsächliche Leiter der Gruppe, auch wenn ich lange brauche, um das zu kapieren. Anfangs dachte ich nämlich, dass Rino nicht nur der Sänger, sondern auch der Frontmann sei. Schließlich verdankt ihm die Gruppe ihren Namen - einen Scheißnamen: I Misantropi .
    »Weil wir nur Frauen mögen, und dann klingt er auch noch geheimnisvoll. Wer weiß denn schon, was Misanthrop bedeutet?«,
erklärt er lachend. Ihm sind außerdem die Originalkompositionen im Repertoire zu verdanken. Auch ich versuche mich im Komponieren von ein paar Liedern. Mit der Musik habe ich keine Probleme, aber seltsamerweise - angesichts meiner poetischen Ader, meine ich - sind es ausgerechnet die Texte, die mir nicht gelingen wollen: Heraus kommt nur stinklangweiliges Zeug im Stil von Minnegedichten. Nicht, dass die von Rino besser wären, aber er ist wenigstens unverfroren genug, sie auch zu singen. Sein Bravourstück ist Leben , das ungefähr so geht:
    Leben, mein Gott, ich will leben!
Gib mir die Kraft zu leben!
Auch wenn die Welt hungert und
Vietnam brennt.
Mein Gott, ich will leben!
Gib mir die Kraft zu leben!
    Hier sieht man bereits, dass seine mystisch-vitalistischen Neigungen die alte Leidenschaft für die Barrikaden verdrängt haben - alte Leidenschaft, sage ich, weil er in Turin angeblich begriffen hat, dass »die Kommunisten, sobald sie an der Macht sind, zuallererst die anarcho-pazifistischen Künstler wie uns über die Klinge springen lassen. Denk bloß an Majakowski!«, schließt er, wobei Letzterer nebenbei auch Titelgeber für ein anderes seiner Werke ist:
    Dichter und Bruder,
der du an den Menschen geglaubt.
Jetzt bist du ein steifer Leichnam,
Gefesselt, enttäuscht und gescheitert,
Du, die erste Blüte der Revolution,
In einer stockfinsteren Schlucht.
    An der Gitarre ist Franco, genannt Francufort, sei es, weil er mit seiner felsenartigen Statur an einen Primaten erinnert, sei es wegen
der Emigrantensünden, die er jener Stadt verdankt, wo er nicht nur als Hilfsarbeiter gearbeitet, sondern auch gelernt hat, sich die Haare zu toupieren und die Gitarre mit den Zähnen zu spielen, vor allem aber mit dem Verzerrer - ohne den schafft er es einfach nicht, das stelle ich schon bei unserer zweiten Begegnung fest. Angesichts der Tatsache, dass ich bei den Texten leider nicht zu Potte komme, schlage ich eine lange Instrumentalsuite mit dem imposanten Titel Astral Pyramids vor und erkläre ihm des Langen und des Breiten, dass das Stück von der Harmonie der Sphären inspiriert ist, dass die noch vor Pythagoras von den Priestern der mythischen ägyptischen Kultur entdeckt wurde und dass ich einen so zarten, ätherischen Ton brauche, wie ihn die Sterne auf ihren Bahnen erzeugen. Wegen der Reputation, die ich als Organist genieße, lauscht Francufort respektvoll. Er scheint von meinen Worten total berauscht zu sein und sagt begeistert: »Alles klar, hör zu.« Nachdem er aber den Marshall-Verzerrer hat aufheulen lassen, holt er nur wieder das übliche ätzende Geklimper heraus.
    Ich sporne ihn an: »Fließender, kosmischer … atavistischer .«
    Er blickt mich verunsichert an, dann macht er eine Geste, als wolle er eine Fliege verscheuchen, und konzentriert sich wieder auf die Regler des Verstärkers. Nach ungefähr zweistündiger Probe ist das Resultat immer noch dasselbe, sodass ich am Ende genervt sage: »So geht’s«, und Vito der Bassist, genannt Agonie, eine Grimasse schneidet. Ich bin ihm nicht sonderlich sympathisch; keiner ist ihm sympathisch. Er ist fahl und schlecht rasiert und so etwas wie chronisch depressiv, düster wie der Klang seines Instruments. Wann immer er den Mund aufmacht, klagt er, vermutlich wohnt er in der Omega-Zone des Dorfs. Ich spiele schon mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen, als Rino in einschmeichelndem Ton zu mir sagt: »Komm, wir gönnen uns’ne Pause«, um mich mit Unternehmermiene durch die Immobilie zu führen. Sobald wir aus der Halle heraus sind,

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