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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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schwarzen Lederjacke, die Hände in den langen Nietenhandschuhen auf die Chopper -Lenkstange gelegt, grußlos zu uns aufschloss. Im Rausch der Geschwindigkeit fuhren wir ein paar hundert Meter nebeneinander her, bis er uns mit einer phänomenalen Beschleunigung exakt vor der großen Kurve der Staatsstraße überholte, wo sich unsere Wege unwiderruflich trennten. Da wir gezwungen waren, das Steuer scharf herumzureißen, warfen die Schleuderkräfte uns alle nach rechts, während Gilera geradeaus weiterflitzte. Wir sahen, wie er sich triumphal in die Lüfte erhob
und über die Leitplanke hinausschoss. Sein Schatten und der seines Rollers zeichneten sich einige Augenblicke lang gegen die Mondscheibe ab, die tief über dem silbern schimmernden Tal hing. Nicht einmal der weichen Getreidedecke gelang es, den Aufprall abzudämpfen. Kurz bevor er in meinen Armen starb, hauchte er mir noch ein paar Worte ins Ohr.
    Zwei Tage später gingen wir zu seinem Haus auf dem Land, aber nicht einmal die Tatsache, dass wir uns jetzt unter dem Vorwand der Beileidsbekundung an seine unvergleichlichen Schwestern Incoronata und Concetta Campochiaro hätten drücken können, gab uns den Mut einzutreten. Wir blieben draußen auf der Wiese unter den blühenden Mandelzweigen stehen, zusammen mit den anderen. Ringsum herrschte eine seltsame Stille. Gilera, ein Junge von gerade einmal siebzehn, war tot, und die Männer aus dem Dorf lehnten sich an die Bäume oder setzten sich ins Gras, um eine zu rauchen und sich in der milden Luft des Nachmittags zu unterhalten, stets im vollen Bewusstsein der Unausweichlichkeit des menschlichen Schicksals. Dann hörten wir Schreie drinnen, und alle, bis auf uns, setzten sich in Bewegung. Traurig schlossen sie sich dem Zug an, der sich vom Haus auf den kleinen Pfad zubewegte, mit dem Sarg, der wie ein poliertes Holzboot auf den Schultern der Hinterbliebenen schaukelte. Wir sahen, wie er in der Stille der Felder immer wieder aufglänzte, einer Stille, die hin und wieder von den verzweifelten Schreien, die aus immer größerer Entfernung zu uns drangen, zerrissen wurde.

    Etwa zwei Monate nach diesem traurigen Tag und unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Rom merkte ich, dass die aus dem 18. Jahrhundert stammende Orgel etwas verstimmt war. Deshalb blieb ich nach dem Ende der Messe in der Kirche, um das Instrument zu stimmen, als mich plötzlich jemand am Ärmel zupfte. Es war Incoronata Campochiaro. Nach dem Tod ihres Bruders hatte sie nicht nur die Schule verlassen, sondern auch ihren Verlobten Titino Darsena, einen stumpfsinnigen jungen Kerl, der aber das bestsortierte Warenhaus im Ort besaß. Seither war die Kirche ihr
Zufluchtsort geworden; zu jeder Tageszeit traf man sie dort an, immer auf den Knien und mit bedecktem Haupt. Sie war majestätisch, bleich und schöner denn je: Schwarz stand ihr zweifellos gut zu Gesicht. Sie sagte: »Ich muss mal mit dir reden, Carlì.«
    Ich machte ihr neben mir auf der Bank Platz. Sie wirkte gefasst, als sie meine Hand zwischen die ihren nahm und gestand: »Heut Nacht iss mir im Schlaf der Liborio erschienen.«
    »Weeer?«
    »Liborio, mein Bru … Also, der Tote.« Für uns war er immer nur Gilera gewesen. »Jede Nacht tut er mir jetzt erscheinen.«
    »Und was sagt er zu dir?«, frage ich, nachdem ich mit einer gewissen Verwunderung zur Kenntnis genommen habe, dass sie sich fest an mich drückt.
    »Die tollsten Sachen hat er mir erzählt … In der Familie ham wir ihn immer wie’nen Trottel behandelt.«
    ›Was das anbelangt, so hat sich diese Behandlung nicht auf eure Familie beschränkt‹, denke ich.
    »Aber jetzt isser bös. Du weißt doch, wie das iss, mit den Seelen der Toten. Die sind imstand und ziehen dich an den Füßen, auch wenn sie’s gar nicht wollen, und werfen den bösen Blick auf dich. Man muss sie besänftigen …«
    ›Scheint ja’ne ganze Sippe von Trotteln zu sein‹, denke ich bei mir. »Jaja, man muss sie besänftigen … Aber was hat das mit mir zu tun?«
    »Du bist der Letzte, der ihn hat was sagn hörn … Was hat er dir denn gesagt?«
    »Tja, ich weiß nicht. Er hat was gemurmelt, der Ärmste. Ich hab’s nicht richtig verstanden.«
    Sie sieht mich an, als hielte ich den Schlüssel zu wer weiß was für einem Geheimnis in der Hand: »Mir hat er’s gesagt, mir hat er’s gesagt.« Dann führt sie meine Hände an ihren üppigen Busen, schließt die Augen und sagt: »Du musst die Blume pflücken.«
    Ich sitze also da, habe endlich die Hände im Spiel

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