Ferne Verwandte
Cocktail« wollte, auch wenn ich auf seine prompte und dieses Mal unterwürfige Nachfrage nicht reagierte. Jenny dagegen zählte in einem ebenso holprigen wie rüden Italienisch auf: »Eis, Gin und nur ein paar Tropfen Martini, Martini Dry, of course .« Dann sagte sie, ohne den Rückzug des jetzt auch im Gesicht roten Kellners abzuwarten, in einer für mich neuen Art und Weise: »Man muss ihnen wirklich alles erklären!«
In diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal die Distanz bewusst, die uns voneinander trennte. Beim dritten Martini - Martini Cocktail, versteht sich - konnte ich diese Distanz bereits bemessen, und sie war wirklich gewaltig. Unter der Wirkung der Drinks erzählte mir Jennifer Collins La Pierre - so ihr voller Name - ihr Leben, und sie begann dabei viel früher als mit ihrer Geburt. Ich
hatte ihr nur eine Frage zu stellen brauchen - ich hatte es getan, um das peinliche Schweigen zu brechen, das auf ihren Ausbruch gefolgt war: »Und Charles, wie hast du den kennengelernt?« -, und schon blieb mir nichts mehr übrig, als zuzuhören. Sie war wie ein reißender Fluss, und ich - beduselt und glücklich, wie ich war - wurde wie ein Strohhalm von dieser starken Strömung mitgerissen. Sie war so verführerisch: ihre vom Alkohol raue Stimme, der Abdruck ihrer Lippen auf dem beschlagenen Glas, die Reflexe der Brillanten an ihren Fingern, wenn sie zwischen einem Schluck und dem nächsten über den Glasrand strichen.
Meinen Vetter hatte sie in Yale kennengelernt, an einer der Universitäten der amerikanischen Aristokratie, und ihre Familie gehörte, wie sie mir lachend gestand, »trotz allem« zu den aristokratischsten Amerikas, denn sie stammte von Fairfax Collins Jones ab, der wie die Begründer jeder bedeutenden Yankeedynastie zu den Pilgervätern auf der Mayflower gezählt hatte - wie viele Leute auf dieser Mayflower Platz gehabt hatten, bleibt eines der Geheimnisse der amerikanischen Geschichte. Besagter Vorfahr, der einige Jahre lang Gast auf den Galeeren Ihrer Majestät der Königin gewesen war, hatte dort seine Lebenskenntnisse verfeinert, ein Umstand, dem zweifellos jene mystische Krise zuzuschreiben war, welche ihm, einmal dem Kerker entronnen und von seinen Gläubigern verfolgt, als Ermutigung gedient hatte, sich in die Gebiete des neuen Kontinents zu flüchten, und zwar mit dem erstbesten Schiff, der Mayflower eben. Er ließ sich als Küchenjunge anheuern, denn die Pilgrim Fathers gingen auch bei der Auswahl der einfachen Mannschaft äußerst fundamentalistisch vor. Sobald jedoch die Küste von Massachusetts erreicht war, verabschiedete sich der ehemalige Galeerensträfling sofort von seiner falschen Berufung.
Die Neue Welt war dermaßen unberührt und unermesslich, dass man ein Dummkopf hätte sein müssen, wenn man sich nicht irgendetwas hätte einfallen lassen, um ein Vermögen zu machen, und Fairfax Collins Jones war kein Dummkopf - es ist klar, dass ich hier zusammenfasse, aber Jennys Erzählweise war eben sehr lebendig.
Er setzte sich also von dem mystischen Häuflein ab, um sich erfolgreich dem Handel mit jenem stärkenden Sirup zu widmen, dessen Rezeptur er sich ausgedacht hatte - Fairfax’s Elisir. Zwei Jahrhunderte sollte es aber noch dauern, bis die Collins Company, wie sie prosaisch genannt wurde, in die Gänge kam, und dies war dem nach ihrem Stammvater zweitliederlichsten Exponenten der Sippe zu verdanken: Brendan Collins Jones.
Brendan war tatsächlich ein Tunichtgut, und sein Vater hatte, nachdem er ihm zum x-ten Mal die Spielschulden bezahlt hatte und bevor er ihn endgültig enterben würde, beschlossen, ihm eine letzte Chance zu geben. Er schickte ihn los, damit er das Elixier der Familie in gleicher Weise an den Mann brachte wie jeder Vertreter. Der junge Mann war des lasterhaften Lebens ohnehin überdrüssig, und wenn der Absatz trotz aller Bemühungen Monat für Monat zurückging, so lag das an dem Produkt, das kaum noch wettbewerbsfähig war, wie ihm nach einem langen Jahr unter jenen Pionieren, die es in die entlegensten Gebiete des Kontinents verschlagen hatte, klar wurde.
Die Pioniere waren Fremde in diesen riesigen Weiten, melancholisch geworden durch die Ferne von der Heimat, wo sie - wie jeder weiß, der einen Roman von Dickens oder den wunderschönen ersten Teil des Kapitals von Karl Marx gelesen hat - oft noch traurigere Lebensbedingungen hinter sich gelassen hatten: stinkende und überfüllte Häuser, von Kindern mit äußerst geringer Lebenserwartung
Weitere Kostenlose Bücher