Ferne Verwandte
fanden die Theorie des Professors amüsant und die Orte entzückend, aber eine Sache machte sie geradezu sprachlos. Wir standen unter der alten Eiche, wo Incoronata und ich uns ewige Liebe geschworen hatten, vom Übrigen ganz zu schweigen. Die Sonne ging bereits unter, und aus der Ferne drangen die Klänge des Ave Maria an unser Ohr, zuerst vom Kloster her die von Schubert, dann die von Gounod aus der Mutterkirche. Charles und Jenny blickten mich fragend an. »Das ist ein alter lokaler Brauch«, erklärte ich treuherzig und fügte hinzu: »Sie spielen es jeden Abend.« Ein träumerischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als die Musik verklang und die Stille sich wieder der Landschaft bemächtigte.
Später gingen wir zur Taverne des sogenannten Nordländers, der uns seine hybriden Spezialitäten empfahl - Pasta und Bohnen mit Safran, Stockfisch an Sahnecreme mit Gürkchen oder Hammelfleisch süßsauer. Ich gab die beiden als Freunde aus, die ich auf meinen Reisen kennengelernt hatte, denn obwohl die Apache-Mutter ihre Dokumente in den Händen gehabt hatte, hoffte ich, Charles’ Wunsch erfüllen zu können, bevor die Nachricht von seiner Anwesenheit Nonnilde zu Ohren kam. Während wir zu Abend aßen, beantworteten sie meine Fragen über ihr Leben, vor allem aber wollten sie etwas über das meine erfahren. Im Verlauf des Tages hatte ich mich absichtlich vage ausgedrückt, doch jetzt zog ich die Nase hoch, wie man es tut, wenn man seine Angst bezwingt,
und murmelte, dass sie im Urlaub seien und ich sie nicht beunruhigen wolle, was mich nicht daran hinderte, gleich auf ihre erste Nachfrage hin die ganze rührselige Geschichte an sie hinzulabern. Umständlich berichtete ich von den Misshandlungen, die ich seitens der Großmutter von Kindesbeinen an erlitten hatte, und den Machenschaften, mit denen sie mich aus den Armen meiner Liebsten gerissen und zu meiner unglücklichen Existenz an der Seite von Alba Chiara verurteilt hatte. Jenny sah mich aus ihren großen, langwimprigen Augen an - sie hatte eine merkwürdige Art, mich zu fixieren - und pickte ständig mit den Fingern etwas von meinem Teller, eine Unart, die ich immer verabscheut hatte, die mir jetzt aber als Gipfel kosmopolitischer Raffinesse erschien. Mein Vetter dagegen aß mit Appetit weiter, trotz des Berichts über die Misslichkeiten meines Lebens, und als ich am Ende, so gut ich konnte, wie ein armes, verlassenes Hündchen dreinblickte, schwieg er, seufzte und sagte dann: »Es sieht so aus, als hätte sich hier wirklich nichts geändert, hm?« Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und fügte verständnisvoll hinzu: »Aber mach dir keine Sorgen, irgendeine Lösung werden wir schon finden - so oder so.«
Ich blickte ihn hoffnungsvoll an. Seine Augen waren feucht, und er war mein Vetter - mein Vetter zweiten Grades, genau genommen -, aber er würde dafür sorgen, dass ich aus diesem Schlamassel herauskam. Doch was ihm den Blick verschleierte, war leider nicht die Rührung über mein menschliches Drama, wie sehr hatte ich mich da getäuscht! Jennifer hatte versucht, ihn am Trinken zu hindern, aber zwei Glas Bier hatten genügt, um seine Gesichtszüge und den Ton seiner Stimme zu verzerren. Er war dermaßen betrunken, dass er beim Hinausgehen von zwei Seiten gestützt werden musste, und schon bei diesem ersten Mal hätte mir klar sein müssen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte.
Jedenfalls tat ich am nächsten Morgen, sobald sich die Großmutter, Onkel Teodorino und Tante Ines frühmorgens auf den Weg machten - die beiden Ersten in Richtung Ölfabrik, Letztere zur Messe im Kloster -, was zu tun ich versprochen hatte. Ich holte
Jennifer und Charles in der Pension ab und begleitete sie zu mir nach Hause.
Charles wollte jeden Winkel sehen. Beim Anblick der Geburt Christi zuckte er regelrecht zusammen. »Das sieht nach einem Tenebristen aus«, sagte er und trat an das Bild heran, um es genauer zu studieren. »Ja, es gibt keinen Zweifel. Es ist wahrhaftig ein Tenebrist, und ich finde ihn ausgerechnet im Haus meines Großvaters! Unglaublich!« Als er mir erklärte, dass der Name der Schule sich von tenebra - Finsternis - herleitete, von der gewollten Düsterkeit ihrer Themen also, war auch ich überzeugt, dass es nichts Unglaublicheres gab. Bis jetzt hatte ich nicht besonders darauf geachtet, aber deprimiert, wie ich durch das Ende meiner Liebe und meine Zukunftsaussichten war, stellte sich mir mein Zuhause, das über einem Abgrund schwebte, pfeifenden Winden
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