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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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ausgesetzt war, in der Nacht beängstigend schwankte und nunmehr bloß noch von den Schatten meiner verstorbenen Onkel und Tanten bevölkert war, in seiner ganzen tristen Düsterkeit dar. Hätte es eine passendere Endstation für einen »Tenebristen« geben können? Charles sagte ich das natürlich nicht; ich bemühte mich vielmehr, seinen Enthusiasmus zu teilen, während wir uns auf der in den Felsen gehauenen Straße aufs Land hinaus begaben und eine der Grotten erkundeten, deren Legende er bestens kannte - er ergänzte lediglich, dass es in Süditalien mindestens zwanzig Dörfer gebe, in denen die Tempelritter angeblich ihren Schatz vergraben hatten.
    Am Nachmittag zeigte ich ihnen dann die zwei oder drei bedeutenden Kirchen, und sobald wir im Kloster waren, spielte ich auf ihren Wunsch hin auf der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Orgel eine meiner esoterischen Kompositionen, wobei Jenny allerdings umherging, um die Votivbilder zu betrachten, und Charles viel stärker an den zweiundvierzig Heiligenreliquien in den staubbedeckten Flaschen, die wie Weckgläser in der großen Glasvitrine hinter dem Altar aufgereiht waren, interessiert zu sein schien. Pergamentröllchen oder wenigstens angeschimmelte Etiketten verzeichneten Angaben zur jeweils darin enthaltenen Besonderheit
- eine große Auswahl an Fingern, Augen, Nägeln, Füßen und Nasen - und zum dazugehörigen seligen Märtyrer, dem »Spender« gleichsam. Charles trug alles akribisch in ein Notizbuch ein, auch wenn er am Ende lachend feststellte: »Es scheinen eher Hindugottheiten zu sein als christliche Heilige: Dies ist schon der fünfte Zeigefinger des heiligen Hieronymus, den ich in Italien zu Gesicht bekomme.« Dann bat er mich, ihn an einen Ort zu führen, von dem aus er noch einmal die Musik zur Vesper hören könne. Sobald wir auf dem Gipfel von Pits Berg angelangt waren und aus der Ferne in sanften Wellen jene heiligen Melodien an unser Ohr drangen, erzählte ich ihm, dass man von hier aus an bestimmten Tagen das Meer sehen könne.
    Das Meer sahen wir dieses Mal nicht, aber die dräuenden Wolken am Horizont hatten sich derart zusammengeballt und verfinstert, dass sich die Konturen der Berge enorm streckten und sie uns ungeheuer groß und hoch vorkamen - und das Tal ungeheuer tief. Wir blieben stehen und schauten, bis das Licht des Mondes, der aus einer kleinen Wolkenspalte herausschlüpfte, ihre Konsistenz auflöste und den Apennin langsam wieder auf seine natürliche Größe schrumpfen ließ. »Schade, dass wir morgen abreisen müssen«, seufzte mein Vetter angesichts dieser Szenerie, und ich spürte, wie mir der Boden unter den Füßen wegrutschte, nicht nur wegen meiner Schwindelgefühle. Während des Tages hatte ich vergeblich gehofft, dass er wieder auf meine Zukunft zu sprechen käme. Meine Ungeduld zügelnd, hatte ich mir gesagt, dass ich ihn nicht bedrängen durfte: Es würde noch genug Zeit bleiben. Jetzt wusste ich, dass überhaupt keine Zeit blieb, und kaum waren wir beim Abendessen, versuchte ich verzweifelt, das Thema anzuschneiden. Charles hörte mir allerdings kaum zu, so abgelenkt war er von der Auswahl der Speisen - die Entscheidung für die traditionelle Trattoria erwies sich als weiterer Fehler. Entnervt unternahm ich einen letzten Versuch, und er lächelte nachsichtig. › Idiot , was gibt’s denn da zu lachen?‹, dachte ich, aber inzwischen waren wir mit dem Essen fertig, und sobald wir draußen waren, sagte ich mir, dass ich für
immer verloren sei, während er jetzt mit seiner üblichen versoffenen Stimme in seinem üblichen professoralen Tonfall deklamierte: »Ist nun, mein lieber Vetter, der Augenblick des Abschiednehmens gekommen?«
    »Sieht so aus«, antwortete ich frostig.
    Er lachte mir zum x-ten Mal ins Gesicht, und ich hätte es nicht ertragen, hätte er nicht hinzugefügt: »Warum kommst du nicht mit uns mit?« Das Herz wollte mir zerspringen, und beinahe hätte ich vor Freude losgeheult: Ist es möglich, dass ich es geschafft hatte? Doch er wollte nur, dass ich sie auf ihrer nächsten Etappe begleitete, und dann: danke schön, auf Wiedersehen. Aber immerhin besser als nichts. Es würden sich weitere Gelegenheiten ergeben, mit ihm zu reden, und was hatte ich schon zu verlieren? »Na komm schon, auch Jenny würde es freuen, oder, Jenny?«, insistierte er und wackelte dabei bedrohlich mit dem Kopf.
    »Sehr sogar«, bekräftigte sie und lächelte, ohne mich anzusehen. Es war ein seltsames Lächeln - so eines, wie es

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