Ferne Verwandte
machen müssen: Wohltätigkeit, Schenkungen an Museen - kurzum, es war ihm gelungen, sich seinen Platz in der guten Gesellschaft der Vereinigten Staaten zu sichern. »Außerdem haben sie zu Hause ganz andere Sorgen. Cybill, meine kleine Schwester, ist das wirkliche Problem«, und sie fing an, mit einer Art empörter Belustigung deren Unternehmungen aufzuzählen.
Tatsächlich hatte diese Cybill alles gemacht, was eine junge Frau aus den Vereinigten Staaten in jenen Jahren machen konnte. Sie hatte Drogen genommen, war von zu Hause durchgebrannt, hatte in einer Hippie-Kommune und in einer buddhistischen Sekte gelebt und war nach einem Jahr im Orient mit einem koreanischen Künstler - was in der Rassenskala weit unter den Italienern rangiert - zurückgekehrt. »Es ist klar, dass Papa und Mama ganz froh waren, Charles aufzunehmen«, erklärte sie. »Trotzdem ist es schwer … mit Charles zu leben. Das ist dir vermutlich klar geworden, oder?«
»Na ja, er scheint doch schwer auf Draht zu sein«, antwortete ich aufrichtig.
»Ja, das ist er«, antwortete sie und sah mich unverwandt an.
Dann blickte sie auf die Uhr und sagte mit einem Seufzer: »Es ist spät geworden. Gehen wir zurück.«
So fanden wir uns alle drei im Restaurant auf der Hotelterrasse beim Abendessen wieder. Insgesamt sind wir ungefähr ein Dutzend Leute am Tisch, und es beeindruckt mich schon zu sehen, wie mein Vetter Charles im Kreis von Gelehrten das Wort führt, obwohl die angesichts der Tatsache, dass sie in Italien geboren sind, eigentlich selbst etwas über unsere Heiligen wissen müssten. Stattdessen hängen sie an seinen Lippen. Von Nachteil ist, dass Jenny weit von ihm entfernt sitzt und er eine Flasche in seiner Nähe hat. Am Anfang macht ihn das sogar lockerer, aber der zweite Gang ist noch nicht aufgetragen, da sinkt Charles schon mit lautem Gepolter vom Stuhl, und sobald er am Boden liegt, fängt er zu schnarchen an. Jennifer springt auf und zieht mich am Arm. Auf Englisch sagt sie: »Es hat damit zu tun, dass sein Tagesablauf durcheinandergeraten ist, das hat immer solche Folgen.« Ich übersetze für das offenkundig monolinguale Publikum, während wir ihn im allgemeinen Schweigen abschleppen. Im Lift versucht sie, ihn mit ein paar Klapsen, ja, mit regelrechten Ohrfeigen wiederzubeleben, und stößt dann ein verzweifeltes: » Fuck off « aus - was ich wohl nicht zu übersetzen brauche.
Das Zimmer wird von außen kaum erhellt, und Charles über den Teppichboden zu schleifen ist äußerst mühsam, und als es uns schließlich gelingt, ihn auf dem Bett abzulegen, kommen wir uns ziemlich nahe - ihr Gesicht ist nur einen Hauch von meinem entfernt. Ich starre auf ihre Lippen, und in ihren Augen erkenne ich den Ausdruck ihrer Vorfahrin Yeopotàc, als sie in jener Nacht ihren Gemahl abstach. Tatsächlich seufzt sie und sagt mit drohendem Unterton: »Dein Cousin geht mir allmählich auf den Geist.« Dann senkt sie den Blick und fügt, dieses Mal mit einem bezaubernden Akzent, hinzu: » Grazie , Carlo … Buona notte .«
Ich ziehe die seidengepolsterte Tür hinter mir zu und gehe ins Bett. Lange sollte mein Schlaf allerdings nicht währen.
22
Jetzt, da ich so weit herumgekommen bin, kann ich getrost behaupten, dass der kurze Küstenabschnitt zwischen Acquafredda und Castrocucco zu den zehn - na ja, sagen wir: dreißig - schönsten Gegenden der Welt gehört. Aber auch damals, als ich zusammen mit Charles und Jennifer dort ankam und der Mond den Berg mit der Christusfigur - diesen Mini-Zuckerhut -, die Koniferen an den Hängen zwischen den Buchten und die im glitzernden Meer schwimmenden Inselchen beschien, glaubte ich bereits, dass es wohl nicht viele solcher Orte geben dürfte. Mein amerikanischer Vetter und seine Begleiterin schwiegen - sie, die sich sonst für alles so begeisterten. Tatsächlich hatten sie während der ganzen Fahrt nichts gesagt. Vor unserer Abfahrt hatte ich sie von meinem Zimmer aus gehört, und auch wenn ihre Stimmen nur gedämpft zu mir gedrungen waren, war unschwer zu erraten gewesen, dass sie miteinander stritten. Sie waren auch gleich nach unserer Ankunft in Maratea in ihr Zimmer hinaufgegangen. An diesem Tag aß ich allein zu Abend.
Am nächsten Morgen kam mich Charles um sieben Uhr wecken und fragte ganz aufgekratzt: »Gut geschlafen, Vetterchen?«, und warf einen skeptischen Blick in mein Zimmer. »Na ja, es ist das einzige Hotel in der Gegend, in dem man eine Tagung abhalten kann … Aber jetzt bringe ich dich zum
Weitere Kostenlose Bücher