Ferne Verwandte
Frühstück an einen wirklich besonderen Ort.«
Um dorthin zu gelangen, laufen wir im Gänsemarsch durch einen schmalen Hohlweg über den Klippen. Es riecht nach Harz,
das Meer ist wie aus Kristall, und Charles kommt es komisch vor, dass ich noch nie hier war, obwohl mein Wohnort doch ganz in der Nähe liegt.
»Aber auf Capri bin ich immerhin gewesen«, entschuldige ich mich.
»Na ja, dann …«, und er lächelt belustigt. Er blickt auf die Pinien, die das Meer säumen, und holt tief Luft. »Es ist sogar noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe«, gesteht er, und ich beobachte unterdessen, wie er geht: Er wirft den rechten Fuß genauso nach außen wie ich, und mich überkommt Rührung. Ich denke an die Mühe, die unsere Gene - der Entfernung und dem Schicksal zum Trotz - aufwenden mussten, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, und mittlerweile sind wir bei einer kleinen Bucht mit hellen Steinen in klarem Wasser angekommen. Nahebei befinden sich eine Bootsanlegestelle und mehrere Pavillons aus Holz und Ziegeln. Über einen schattigen gewundenen Pfad steigen wir wieder nach oben, an den üblichen Pinien, Buchen und Eichen vorbei, bis zu einer englischen Rasenfläche, in die ein ovaler Swimmingpool aus weißem Marmor eingelassen ist. Dahinter erstreckt sich ein Bau mit bogenförmigen Loggien, der eher an ein Kloster erinnert als an ein Hotel.
Der Portier fixiert uns abweisend. Von unserer Aufmachung her zu urteilen, hat er nicht ganz unrecht, aber dann genügt es, dass mein Vetter den Mund aufmacht - er spricht mit ihm in seiner Sprache, im selbstsicheren Ton eines Mannes von Welt -, und sofort wird uns ein junger Hoteldiener an die Seite gestellt, dem wir durch menschenleere Salons folgen. Sie sind in strahlend gelbes Licht getaucht, das durch Baumwollvorhänge sickert und auf die bemalten Keramikkacheln fällt.
Der Speisesaal ist von nüchterner Eleganz. Nussbaumstühle sind an die wassergrünen Tischtücher herangerückt, und wenige, aber ausgewählte Bilder hängen an den Wänden. Der Maître leitet die Bestellungen an einen Kellner weiter. Dienstbeflissen antwortet er auf Charles’ Fragen und erzählt, dass der Ort in den fünfziger Jahren eine obligatorische Etappe auf den Kreuzfahrten der Freunde
des Grafen und Hotelbesitzers geworden war. Ich registriere Namen von Schauspielern, Schauspielerinnen, Industriemagnaten und Schriftstellern und blicke auf die Küste mit ihren kleinen Inseln, die auf dem himmelblauen Schleier des Meeres schweben, und obgleich sich, wie ich aus dem Mund des Maître erfahre, die Dinge seither verändert haben - der gräfliche Eigentümer ist gestorben, das Hotel hat seine alten Gäste verloren, und für Kongresse wie jenem, an dem Charles teilnehmen muss, ist es zu klein -, so ist es doch das erste Mal, dass ich von einem silbernen Service frühstücke.
»Na, was hast du für einen Eindruck?«, fragt mich Charles, als wir allein sind.
»Es ist schön, und wenn ich bedenke, dass es kaum eine Stunde vom Dorf entfernt ist …«
»Aber auch dort ist es wunderschön.«
»Ja, für ein paar Tage schon. Aber versuch mal, dort zu leben!«, antworte ich und schüttle betrübt den Kopf.
Er nippt an seinem Tee und blickt mich unverwandt an. Sobald er die Tasse von den Lippen nimmt, fragt er mich: »Geht es dir dort wirklich so schlecht?«
»Ich habe dir doch erzählt, wie die Lage ist, oder?«, weiche ich lachend aus.
Auch er lacht und sagt dann: »Und Amerika, hast du schon einmal daran gedacht, nach Amerika zu gehen?«
Ich spüre, wie mir das Herz aufgeht. Es ist, als hätte mir jemand mitgeteilt, dass ich in einer Lotterie gewonnen haben könnte - oder etwas noch Wichtigeres und Entscheidenderes. Eigentlich fehlen mir die Worte, aber es gelingt mir zu murmeln: »Daran denke ich seit meiner Geburt.«
Charles ist der Einzige, der mir sagen könnte, ob ich wirklich das große Los gezogen habe, aber er lässt mich zappeln. »Und was stellst du dir vor, was es dort gibt?«, fragt er mich.
Tja, was stelle ich mir vor? Ich müsste jetzt irgendetwas Intelligentes von mir geben, stattdessen aber sage ich: »Nichts Bestimmtes.«
»Streng dich ein bisschen an, nur Mut.«
Dann sehe ich ihn an. Sehe seine treuen, ehrlichen Augen und beichte: »Hör zu, ich war noch ein Kind, als ich die Fotos gefunden habe, die Papà meiner Mamma geschickt hat. Nonnilde hatte sie im Keller versteckt, und in all diesen Jahren ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich sie mir nicht angeschaut hätte.
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