Ferne Verwandte
Wolken, die der Mond mittlerweile erstrahlen lässt. Sie spricht nämlich in ihrem erlesenen Amerikanisch zu mir - mehr als zwei Jahrhunderte Privilegien und Reichtum hat es gebraucht, bis es diese Gestalt annahm -, und ich bin doch nur ein armer Dorfjunge. Sie erzählt über Charles und den Ursprung seiner Krankheit. Deshalb beginnt sie mit der Geschichte seines Vaters, William Di Lontrone, und davon will ich mir wirklich kein Wort entgehen lassen.
Wie jedes Kind träumt William davon, einen bedeutenden Vater zu haben, bis er sich, als er heranwächst, bewusst wird, wie bedeutend sein Vater tatsächlich ist, und sich im Vergleich zu ihm wie ein Nichts vorkommt. Die einzige Person, die ihn zu verstehen scheint, ist seine Mutter, und als sie an einem Infarkt stirbt, lässt er nichts unversucht, um aus dem gigantischen Schatten seines Erzeugers herauszutreten. Irgendwann kommt er zu dem Schluss, ein Künstler zu sein. »Ein gewisses Talent hatte er«, sagt Jenny und nimmt rasch einen Schluck. »William hat alles gesammelt, was er fand, merkwürdiges Zeug: Details aus Illustrierten, Gipsabdrücke
von Autos. Er war seiner Zeit einfach zu weit voraus. Wäre er beständiger gewesen, hätte man ihn irgendwann entdeckt.« Aber William Di Lontrone ist kein beständiger Mensch. Er gibt die Malerei auf und fängt zu schreiben an. Ihm schwebt eine Familiensaga vor, und da er sich, ebenfalls in dem Wunsch, sich von seinem Vater abzusetzen, bis ins Mark hinein als Italiener fühlt, erzählt er die Saga einer New Yorker Familie von Mafiosi. Auf zweitausend Seiten bringt er es, aber das Werk ist ein solcher Schinken, dass keiner es liest. »Den Titel allerdings muss sich jemand gemerkt haben: Der Pate … Das ist wohl Zufall, aber wirklich ein großer.« Jedenfalls flattern William immer noch die Absagen der Verlage ins Haus, als er erneut umsattelt. Er nimmt nun Musikstunden und verkehrt in Jazzkreisen in Greenwich. Er heiratet Sarah Gilles, die singt und säuft, und bald gilt das auch für ihn, das heißt, er singt nicht, aber er säuft. Dies ist also das Paar, das Charles zeugt, der zu allem Überfluss im Alter von zehn Jahren gekidnappt wird. Nach einem Monat beängstigender Verhandlungen rasen William und Sarah mit dem Lösegeld, das natürlich Onkel Richard herausgerückt hat, zu dem vereinbarten Übergabeort, aber in einer Kurve kommen sie von der Straße ab und prallen gegen eine Mauer. In diesem Augenblick hätte der alte Di Lontrone die Hoffnung aufgegeben, seinen Enkel je zurückzubekommen, hätte ihn nicht die Polizei dort aufgefunden, wo er die ganze Zeit gewesen war - in einer von seinen Eltern beschafften elenden Hütte. Bald begreift Onkel Richard, dass auch dieser Knabe nicht der Erbe ist, den er sich erhofft hat: Charles ist ernsthaft, intelligent und strebsam, aber absolut nicht fürs Geschäft geeignet. Sollte er, wie es den Anschein hat, die Archive irgendeiner Universität der Wall Street vorziehen, wäre er, Richard, gewiss der Letzte, der ihn daran hindern würde - er hat bereits das Scheitern seines Sohnes auf dem Gewissen -, zumal inzwischen Enrico eingetroffen ist, mein Vater also.
Richard Di Lontrone hatte immer alles getan, um sich von seinen Wurzeln zu lösen und Amerikaner zu werden, aber jetzt, da sein junger Neffe aus Italien eintrifft - und er kommt nicht aus einem
der großen Zentren der Kultur oder der wieder aufblühenden Industrie; nein, er stammt aus einem kleinen, gottverlassenen Nest im Süden -, jetzt hört Onkel Richard mit Rührung jenen Dialekt wieder, den er trotz aller Bemühungen niemals vergessen hat. Und dieser Neffe bietet bereits nach ein paar Monaten den bewährtesten Yankeemanagern die Stirn. In Enricos praktischem, aggressivem und phantasiereichem Wesen sieht Richard den besonderen Ausdruck des italischen Genius, und bald schon schwillt ihm die Brust vor patriotischem Stolz. Tatsächlich erkennt er in Enrico sich selbst als jungen Mann wieder, außerdem den Sohn, den er immer ersehnt hatte.
»Er hat ihn richtig verehrt … Sein Verlust war ein schrecklicher Schlag für ihn. Ich glaube, er hat mehr um ihn getrauert als um den armen William und konnte keine Ruhe finden, denn hätte er ihn nicht nach Amerika geholt, wäre das Unglück nicht passiert. Das ist so ein Gedanke, der einem schon kommen kann, und deine Großmutter hat alles getan, damit er ihn nicht vergisst. Und dann ist da noch das Problem mit Charles.«
Einige Jahre sind ins Land gezogen, und die Crème de la
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