Ferne Verwandte
hob und Jenny sah. Indessen hörte man nur das Krächzen der Krähen über dem unbefestigten Pfad, an dessen Ende uns der Betonzyklop erwartete. Wir schirmten unsere Augen ab, um ihn von unten betrachten zu können, und er kam uns grässlich vor: Gesicht und Körper wie von einer Walze platt gewalzt, die Arme ausgebreitet und unheimlich weit nach hinten gestreckt. Er erinnerte eher an einen Zombie als an Christus.
»So ist es immer«, seufzte Jenny in ihrer üblichen düsteren Art, »von Weitem sehen die Sachen wunderschön aus, und wenn man näher kommt, dann …«
Wie ist diese Frau nur auszuhalten?, fragte ich mich. Ich war jung und voller Hoffnungen. Eine strahlende Zukunft erwartete mich in Amerika - Charles hatte es mir ausgerechnet in dem Moment versprochen, in dem Nonnilde mich endgültig zugrunde gerichtet hatte -, und da sollte ich über die Enttäuschungen des Lebens nachsinnen? Ich betrachtete den Horizont; er war so offen, so weit, so himmelblau. Die ganze Welt hätte ich umarmen mögen - von dieser Höhe aus erschien das möglich - und mich von den Luftströmungen davontragen lassen können, doch ich deutete auf die duftige Wolke des Meeres und deklamierte theatralisch:
»Ängstige dich nicht, Jennifer, dieses hier wird in alle Ewigkeit weit und wunderbar sein.« Nachdem ich das gesagt hatte, spürte ich, wie mich eine Gänsehaut überlief, und ich drehte mich um, weil ich ein höhnisches Lachen befürchtete. Stattdessen band sich Jennifer das Tuch vom Kopf. Ihre Haare glänzten in der Sonne, und als sie sich zur Seite neigte, um sie zu ordnen, waren die blauen Zebrastreifen ihres Kleides wie eine einzige laszive Tätowierung auf ihrem Körper - kein Schauspiel der Natur hätte zauberhafter sein können. Dann änderte sie die Blickrichtung und lächelte, als hätte das Licht, das uns überflutete, plötzlich ihre düsteren Gedanken aufgelöst - oder war es mein Gelaber gewesen? Wie auch immer, sie trat näher an mich heran. Mit starrem Blick nahm sie mich bei der Hand und wollte mich zu dem niedrigen Mäuerchen des Belvedere führen. In diesem Augenblick hätte, wie mir bewusst war, alles Mögliche passieren können, was nicht passieren durfte. Ich legte den Kopf in den Nacken. »Nein, nein, ich bitte dich«, sagte ich. Sie war genauso lange verunsichert, wie ich brauchte, um zu gestehen: »Mir ist so schwindlig.« Dann brach sie in Gelächter aus. Was für schöne Zähne sie hatte!
Am Abend sitzen wir zu dritt auf einem dunklen Hotelbalkon. Das Meer unten schlägt Wellen wie Wasser, das jemand in einem Eimer aufgerührt hat. Wir blicken auf die Bucht, über der Blitze zucken, und auf das kleine Kabinenboot, das inmitten des verdreckten Schaums vor Anker liegt und zappelt: Jenny und ich tun das; Charles dagegen schnarcht, wie üblich - während des Abendessens war es ihr gelungen, ihn nüchtern zu halten, aber dann habe ich gesehen, wie er heimlich etwas an der Bar getrunken hat.
»Es erinnert an eine Gegend in Mexiko … wenn es nur nicht so kalt wäre«, seufzt sie und verschlingt die Arme, die das schwarze Schlauchkleid nicht bedeckt. Es lässt auch einiges andere unbedeckt. Ich betrachte die Perlen, die von ihrem Ausschnitt herüberblitzen, ihre langen, schräg gestellten, übereinandergeschlagenen Beine, und wenn ich auch nie in Mexiko gewesen bin, erinnere ich mich, als ich wieder auf die zerklüfteten Klippen und die ausgefransten
Schatten der wie an einem tropischen Strand bis zum Ufer hinabwuchernden Vegetation schaue, an einen jener alten SchwarzWeiß-Filme, die ich mir immer an den Sommervormittagen im Fernsehen angesehen hatte - Die Nacht des Leguans , glaube ich, hieß er. Ganz bestimmt war er mit Ava Gardner, die nach Aussage des Maître unseres Hotels mit einem ihrer italienischen Liebhaber hier abgestiegen war, und ich sage mir, dass Jenny wirklich recht hat und dass Ava - bei ihrem ganzen Alkoholkonsum - sicherlich davon überzeugt war, wieder hier zu sein und den Leguan zu drehen. Kein Zweifel, auch wir legen uns ins Zeug. Jenny gibt dem Kellner ein Zeichen, uns noch einen Jack Daniel’s zu bringen. Dann heftet sie den Blick auf Charles, mustert ihn angewidert und sagt: »Es ist nicht seine Schuld … Er ist krank.« Sie lehnt den Kopf gegen die Wand und fängt zu erzählen an, und es kommt mir vor, als hörte ich tatsächlich die Stimme einer jener Femmes fatales aus so einem Film, während ich mich bemühe, die geheimnisvollen Töne in der gleichen Weise zu enträtseln wie die
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