Ferne Verwandte
überstrahlte alles um sie herum, und bevor sie mich in ihre Arme schloss, sah sie mich an, als wären wir allein. Ich erahnte die Rundung ihrer Hüften unter dem sand- und goldfarbenen Stoff ihres Sirenenkleides, hielt sie aber auf Abstand. Die gefährliche Geschmeidigkeit dieses Körpers kannte ich genau, und das war keine Frage der Erinnerung.
Am Abend zuvor hatte mich der Chauffeur am Plaza abgesetzt, und benommen von der Reise und dem Luxus um mich herum fand ich mich in einem großen, mit Satinwäsche ausgestatteten Bett wieder und schwankte bei dem Gedanken an meine Zukunft zwischen Überschwang und düsterster Trostlosigkeit hin und her. In wenigen Stunden würden Charles und Jennifer heiraten, und ich würde endlich Onkel Richard begegnen. Wie oft hatte ich mir diese Szene ausgemalt? Er, der mich gerührt unter seine Fittiche nimmt und mich, um mich für meine Qualen zu entschädigen - wenn ich Vater und Mutter verloren hatte, war er immerhin nicht ganz unschuldig daran gewesen -, in seine Welt einführt, eine so einzigartige Welt voller Wunder und Geheimnisse, dass es jede Phantasie übersteigt. Und wenn es nicht so liefe? Wenn Charles ihn nicht hatte überzeugen können? Es wäre auch nicht verwunderlich, wenn er es gar nicht erst versucht hätte: Was kann man von einem Alkoholiker schon erwarten? Und in seine Hände hatte ich mein Schicksal gelegt! Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, plünderte ich praktisch
die ganze Minibar, die sich hinter einem Nussbaumpaneel verbarg - war gar nicht so leicht gewesen, sie zu finden -, aber trotzdem pochte mein Herz immer noch wie verrückt, ja, irgendwann kam es mir so vor, als hallte das ganze Zimmer davon wider.
Ich war dermaßen beduselt, dass es einige Zeit dauerte, bis ich kapierte, dass es an der Tür klopfte, doch kaum rannte ich hin, um zu öffnen, sah ich meine Angst wie einen Schwarm schwarzer Vögel davonfliegen. Vor mir hatte ich das lächelnde Gesicht von Charles Di Lontrone jr. Der Enkel eines der dreißig reichsten Magnaten Amerikas, der in weniger als vierundzwanzig Stunden Jennifer Collins Jones La Pierre, die Tochter des Pomadenkönigs, heiraten würde, zog also nicht durch die Gegend, um seinen Abschied vom Junggesellendasein mit Seinesgleichen zu feiern, der exklusiven jeunesse dorée von New York nämlich - glücklichen jungen Leuten mit jenen herb-raffinierten Manieren, wie man sie auf den besten Schulen erwirbt, und mit Meistertiteln in jeder einschlägigen Sportart, vom Baseball bis zum aristokratischeren Polo, Leuten, die gleichzeitig verkorkst genug waren, um irgendeine Nutte aufzugabeln, sich zu besaufen und zur Feier des Tages auf dem Klavier unflätige Lieder zu klimpern -, und wenn Charles lieber zu mir gekommen war, um mich willkommen zu heißen, konnte dies nur bedeuten, dass es der Beginn meines neuen Lebens war, wie er selbst es mit einer brüderlichen Umarmung ankündigte. Dann trat er einen Schritt zurück. »Darauf müssen wir sofort anstoßen«, sagte er und steuerte zielstrebig auf die Bar zu. Er zog zwei Sektflöten heraus, entkorkte die Flasche, die er mitgebracht hatte, und erklärte vergnügt: »Cristal’68, der Beste … Auf unser Wohl, mein lieber Vetter!«
»Ausgezeichnet«, erwiderte ich, ohne mir im Geringsten der Klasse dieses Produkts bewusst zu sein - tatsächlich dauert es Jahre, bis man die höchste Kunst zu schätzen weiß, aber ich würde viel Zeit zum Lernen haben -, und aufgeregt, wie ich war, stieß ich folgenden Allerweltssatz aus: »Jetzt stehst also auch du vor dem großen Schritt, mein lieber Vetter?«
Er tat, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Früher oder später musste es ja passieren«, antwortete er und stürzte das Glas hinunter. »Und … bist zu zufrieden?«
Ich schwebte praktisch im siebten Himmel, und die Welt war mir nie schöner erschienen, aber ich konnte nichts erwidern, als dass ich zufrieden war.
»Sag mir die Wahrheit: Hast du geglaubt, ich hätte dich vergessen?«
»Ja.«
Er lachte amüsiert in sich hinein. »Tja, in der Zwischenzeit habe ich ein paar Probleme gehabt, und auch mit Onkel Richard ist es schwierig gewesen. Doch jetzt ist alles in Butter. Morgen wirst du ihn kennenlernen. Er ist ein bisschen bärbeißig, aber mach dir nichts draus. Es gibt große Pläne für deine Zukunft. Los, trink: Cristal’68, der Beste. Du musst dich daran gewöhnen, von heute an immer nur das Beste zu bekommen. Prosit, mein liebes Vetterchen.«
Er war so glücklich, als
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