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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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blieb wie versteinert sitzen. Der ganze Alkohol, den ich intus hatte, verflüchtigte sich schlagartig, und mit einem Satz war ich bei ihm. Irgendwie atmete er noch, aber das war auch schon das einzige Lebenszeichen. Ich schüttelte ihn, rief seinen Namen, verpasste ihm zuerst vorsichtige, dann immer kräftigere Ohrfeigen. Nichts, er war hinüber. Nun zog ich ihm die Jacke aus, knöpfte sein Hemd auf und fing an, ihm die Brust zu massieren. Ich riss ihm sogar ein Büschel Achselhaare aus - was wie ein primitiver Elektroschock hätte wirken können, aber er rührte sich nicht. Ja, ihm trat grünlicher Schaum aus dem Mund: Das war die anderen Male nicht passiert, und mit Grauen erinnerte ich mich an Jennifers
Worte über das Risiko, dem Charles sich beim Trinken aussetzte: Koma infolge von Alkoholvergiftung.
    ›Von wegen neues Leben‹, hörte ich eine zweite Stimme - nach der des Cristal - in meinem Inneren sagen. Auch sie erkannte ich sofort wieder: Sie ist immer so verdammt aufrichtig, die Stimme des Gewissens. Mein Vetter, in Bälde Gemahl einer der begehrtesten Erbinnen Amerikas, lag im Koma, und zwar in meiner Suite im Plaza … Bei all den Möglichkeiten, die ihm offenstanden, musste er ausgerechnet hier seinen Geist aufgeben, dieser Trottel! Doch der Gedanke, einen Arzt zu rufen, kam mir nicht im Entferntesten in den Sinn. Hätte ich das getan, hätte ich die Schuld auf mich genommen, und Onkel Richard hätte mich mit Fußtritten nach Italien zurückspediert, wo um diese Zeit Alba Chiara wohl schon angefangen hatte, sich unter Mühen in ihr Brautkleid zu zwängen, und bald - sehr bald - allein vor dem Altar stehen würde. So blieb es bei einem letzten Wiederbelebungsversuch, wozu ich ihm, meinem Vetter Charles, das Gesicht mit Maulschellen traktierte, bis ich mich schließlich erschöpft auf das erstbeste Sofa fallen ließ. Nein, es gab nur eine einzige Möglichkeit: Ich musste ihn loswerden. Aber wie, mitten im Herzen von New York? Ich zerbrach mir noch den Kopf darüber, als ich plötzlich seine Jacke auf dem Boden liegen sah. Als ich ihn vorhin aus ihr herausgeschält hatte, war auf der einen Seite etwas merkwürdig Schweres zu spüren gewesen, und so stürzte ich mich jetzt darauf.
    Der Schlüssel steckte in der rechten Tasche. Ich beglückwünschte mich zu meiner Intuition, als ich die Nummer unter der Aufschrift Plaza Hotel las. Zum Glück hatte Charles beschlossen, seine letzte Nacht als Junggeselle im Hotel zu verbringen - eine Nacht, die wohl zugleich seine letzte sein würde. Jetzt musste ich ihn nur noch in sein Zimmer verfrachten, und alles wäre geritzt - zumindest für mich. Ich wischte ihn, so gut es ging, mit einem Handtuch sauber und lugte hinaus. Der mit Teppichboden ausgelegte Flur war leer und still. Ich zerrte ihn zur Tür und spähte, bevor ich hinausging, noch einmal nach beiden Seiten: Ein junges fettleibiges Paar taumelte
dicht aneinandergeschmiegt durch den abgedämpften Raum. »Hallo«, sagte ich einfältig.
    »Hallo«, hörte ich die beiden Fettwänste hinter dem Schutzwall der Tür einfältig antworten.
    Ich wartete ein paar Minuten, bevor ich mich wieder vorwagte: Jetzt war niemand in Sicht. Ich zog die Mumie bis zum Aufzug. Sobald ich auf der richtigen Etage war, musste ich sie noch etwa zwanzig Meter weit zerren, bis ich erschöpft den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte. Drinnen brannte Licht, aber das beunruhigte mich nicht. Nur dass der große Spiegel, dessen Rahmen ebenso mit Gold überkrustet war wie die Konsole darunter, gezielt einen von kegelförmigen Lichtern angestrahlten weiblichen Körper reflektierte, der bis auf die nerzfarbene Unterwäsche nackt war: Es war der Körper meiner künftigen Cousine Jennifer. Über den schimmernden Marmor des Waschbeckens gebeugt, war sie gerade dabei, sich abzuschminken. Ich sah, wie ihr Rücken sich straffte, die Steine ihrer Ohrringe kaltes Feuer sprühten und ihre Augen mich durch das Labyrinth der verschiedenen Spiegel hindurch anstarrten, ohne auch nur, wie es die Situation erfordert hätte, im Geringsten erstaunt zu sein, und ich konnte das gerade noch der typisch amerikanischen Ungezwungenheit zuschreiben - bei uns hätte nicht einmal das ausgebuffteste Paar vor der Hochzeitsnacht ein Zimmer miteinander geteilt, und sei es auch nur aus Aberglauben -, da hatte ich sie auch schon neben mir. Jennifer.
    Sie trug eine in Wellen gelegte Frisur, typisch amerikanisch auch das, aber die Art, wie sie mich ansah, nachdem sie Charles mit

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