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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Gesicht ohne Backenknochen, die Augen zwei Spiegeleier hinter dicken Weitsichtgläsern, das Polohemd mit babylonischen Reliefs bedruckt. Bei dem ganzen internationalen Publikum, das mich umgibt - staunend bewundere ich die elegante Körperhaltung und die aus erlesenen Stoffen verfertigte Kleidung der Passagiere in der Reihe gleich neben mir -, musste ausgerechnet dieser Primitivling neben mich geraten! Ich winke ab, auch wenn ich einen solchen Hunger habe, dass ich ein Dutzend dieser
Tablettchen leeren könnte. Das ist eine Frage des Stils: Bin ich nun im Begriff, ein bedeutender Geschäftsmann zu werden, oder nicht? Darauf hoffe ich zumindest, und zwar mit jeder Faser meines Seins.
    Als ich mit dem Abendessen fertig bin, versuche ich, mir den Film anzusehen, den sie im Programm haben, aber der Stammesgenosse neben mir setzt seine Gesprächsbemühungen fort, und von ihm mal abgesehen fühle ich mich tatsächlich erschöpft. Also trinke ich das x-te Glas Champagner, das die gute Stewardess mir serviert, setze mir die Kopfhörer auf und schlafe, die Musik in den Ohren - die durch die Wolken gefilterte Musik, welche man nur in Flugzeugen hört -, auf der Stelle ein.
    Seit Jahren habe ich nicht mehr von meiner Mutter geträumt. Vom Bett aus betrachte ich den Sonnenstrahlenkranz um die Fensterläden und die Staubwirbel der trägen Nachmittage meiner Kindheit, und jede Einzelheit ist so lebendig, dass es eher an eine Vision erinnert als an einen Traum, so eine Vision, wie sie sich die Mystiker mithilfe der Askese verschaffen und wie sie uns Normalsterblichen vielleicht während einer Krankheit, infolge eines Sonnenstichs oder unter Einwirkung von Drogen widerfährt - oder noch einfacher, wie in meinem Fall, wenn man nach Erschöpfung sämtlicher Kräfte einnickt. Die Großmutter hatte mich soeben ausgeschimpft, und ich hatte mich zur Mamma geflüchtet, auf unsere Bettdecke mit dem Ozeanmuster. Mit ihrer Umarmung ist meine Schuld getilgt. Ich dachte an meinen Vater, daran, wann er zurückkommen würde, und im Halbschatten sah ich ihn, den Papà. Er lächelte das heitere Lächeln seiner Fotos aus Amerika. Er führte den Zeigefinger an die Nase, machte Pssst , kam auf mich zu und legte sich neben mich. Jetzt, ja, jetzt war ich glücklich, und mit der noch unsicheren Stimme eines Kindes skandierte ich: »Jetzt sind wir drei: Mam-maaa, Pa-paaa und ich« und tastete nach ihren Händen. Es waren zwei Eisklötze. Ich starrte auf ihre wie aus Wachs modellierten Gesichter, die scharfen Profile, den rictus ihrer Lippen: Ich lag zwischen zwei Leichen, verspürte aber kein Grauen, fühlte nur
einen großen Schmerz, eine unendliche Sehnsucht, und wimmerte: »Ich will auch sterben. Ich bitte euch, nehmt mich mit in den Himmel. Mamma, ich flehe dich an, lass mich nicht wieder allein.« Daraufhin drehte mir meine Mutter mühsam den Kopf zu - ich hörte deutlich das Knacken der toten Sehnen an ihrem Hals -, riss die gläsernen Augen auf und rief mit entsetzlicher Stimme: »Nein, mit diesem Schwein kommst du nicht mit, verstanden? Du kommst nicht mit!«, und das Bett sackte unter mir weg, und ich fand mich plötzlich hellwach im Flugzeug wieder, das unter den verzweifelten Schreien der Passagiere abstürzte - denselben, die mir so elegant vorgekommen waren, als könnten sie jegliche Situation mit absoluter Beherrschtheit meistern. Ich schrie nicht, dazu fehlte mir die Kraft. Ich presste mich gegen die Lehne in Erwartung des Aufpralls oder der Explosion des Rumpfes infolge der Geschwindigkeit oder meines Herzens aufgrund des Schreckens. War jetzt mein Leben zu Ende? Ausgerechnet jetzt, da ich mir endlich meinen Traum erfüllte! Aber wie jeder weiß - und wie mir während des rasanten, bodenlosen, unendlichen Absinkens immer klarer wurde -, schert sich der Tod einen Dreck um deine Träume. Deshalb machte ich, was alle Menschen in bestimmten Momenten tun: Ich schloss die Augen und flehte: » Maam-maaa «, und just in dieser Sekunde versuchten zwei skelettartige Hände, mich von hinten an den Armen festzuhalten, aber wir verloren in einem solchen Wahnsinnstempo an Höhe, dass ich ihrem Griff entschlüpfte und spürte, wie sie an meinem Hals entlangglitten, bis sie mich in letzter Not an den Ohren packten und so meinen persönlichen Absturz und daraufhin auch den des Flugzeugs stoppten. Ungläubig schlug ich die Augen wieder auf, und in der Turbulenz, die auf den toten Punkt folgte - wir tanzten schlimmer als eine alte Waschmaschine -, sah ich

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