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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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einer Grimasse den Puls kontrolliert hatte, war dieselbe, die Frauen überall haben, wenn ihnen etwas Bestimmtes in den Sinn kommt. Während wir den Komatösen auf das Bett hievten, öffnete sich vorne der Schlafrock, den sie sich übergezogen hatte. Ich versuchte, nicht darauf zu achten, aber sie - dieser Abkömmling der gestrengen Pilgerväter, der in wenigen Stunden meinen Vetter heiraten würde - kam näher, starrte mich unverwandt an, befummelte mich
und sagte: »Du ahnst ja nicht, wie oft ich an deinen schönen italienischen Schwanz gedacht habe.«
    Als ich mitten in der Nacht in mein Zimmer zurückging, kam mir alles wie ein Traum vor. Aber es war kein Traum. Ich sah sie noch, wie sie sich in die Hand biss, um nicht zu schreien. An mir haftete noch der Duft, der mich kurz zuvor in Ekstase versetzt hatte und mir jetzt Übelkeit verursachte, so wie selbst der edelste Wein auf einen Betrunkenen wirkt. Und ich war wirklich granatenvoll. Mit ihr hatte ich weitergebechert, hatte ihr Champagner - natürlich Cristal’68, »den Besten« - von den Brustwarzen geleckt und ihn aus ihrem tiefen Nabel genippt, und jetzt kam es mir vor, als würden die Zimmerwände pulsieren. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Klo, und nachdem ich mich ausgekotzt hatte, sank ich irgendwie zu Boden. Seit kaum zehn Stunden war ich in Amerika, und schon war ich zwischen Jennifers Schenkeln gelandet. Schlimmer noch, sie wünschte, dass sich das wiederholte - »Es war dumm, dich gehen zu lassen … Aber jetzt bist du hier, und ich lass dich nicht mehr weg. Fotti , fotti «, hatte sie gefordert, und trotz der verzweifelten Jahre, die ich durchlebt hatte, und obwohl ich ihretwegen riskiert hatte, das, was mir am wichtigsten war, für immer zu verlieren, hatte ich gehorcht und bloß gefragt: »Warum ausgerechnet ich?« - »Es ist doch offensichtlich, dass ich ein Faible für die Di Lontrones habe«, hatte sie von oben herab geantwortet. Von dieser Frau musste ich die Finger lassen, das war die einzige Möglichkeit, mich zu retten. Ich schwor es mir feierlich, so wie ich mir, als ich entkräftet, mit schlingerndem Kopf und Galle im Mund zu meinem Zimmer geschlichen war, geschworen hatte, niemals mehr einen Tropfen Alkohol anzurühren.
    Die Luft, die ich vom zwölften Stock des Plaza aus in meine Lunge pumpte, kam mir nicht so anders vor als jene, die ich um dieselbe nächtliche Stunde zu Hause aus einem der Fenster über dem Tal eingeatmet hätte. Ich verspürte ein Gefühl des Staunens und des Trostes zugleich. Einen Augenblick lang vermeinte ich, die vertraute Stille zu hören, die so vollkommen war, dass man, wenn man sich
konzentrierte, in seinem Inneren das Gemurmel einer Schar Affen oder einen unterirdischen Fluss zu hören vermeinte. Wie Medoro mir offenbart hatte, handelte es sich in Wirklichkeit um den Klang, den die Planeten auf ihren Bahnen erzeugen. Hier war sie nicht nötig, die Konzentration. Die Stadt New York erzeugt ihren eigenen Basso continuo, und in je größerer Höhe man sich befindet, desto deutlicher nimmt man ihn wahr. Es ist ein tiefer, rauschender, ozeanischer Ton, das Geräusch der Klimaanlagen, der elektrischen Leitungen, der Stromkreise, und es unterscheidet sich von jenen anderen, niederen, flimmernden Frequenzen, deren Herkunft einem niemand erklären kann. Man blickt auf die Wolkenkratzer ringsum, auf die Leuchtsignale für die Flugzeuge auf den höchsten von ihnen, die vom Gekräusel wirbelnder Wolken umhüllt sind. Tausendmal hat man dieses Panorama im Kino gesehen, aber wenn man die Augen schließt, ist es, als befände man sich im Herzen eines Regenwaldes, der von geheimnisvollen Vögeln bevölkert und von deren nächtlichem Gesang durchdrungen ist.
    Am folgenden Nachmittag hörte ich einen anderen Gesang: Er kollerte aus dem mit kastanienbraunem Lippenstift beschmierten Mund einer vierschrötigen Sopranistin. Eigentlich begleitete ich sie eher, als ihr zu lauschen, denn ich griff meinerseits in die Tasten der Orgel der St. Patrick’s Cathedral. Das war der Wunsch meines Vetters gewesen.
    Er hatte mich am frühen Morgen geweckt und mich darum gebeten, und das war kein schönes Erwachen gewesen. Völlig verschlafen hatte ich den Hörer abgenommen, und als ich um diese Zeit Charles’ Stimme erkannt hatte, war mir das Blut in den Kopf geschossen. Jetzt war es also endgültig vorbei. Aber Charles hatte die verträumte Intonation eines Mannes, der im Begriff ist, die Frau zu heiraten, die er liebt, und der

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