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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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hätte er ein persönliches Problem gelöst, und während ich ihn ansah und diesen freudigen Blick studierte, kam er mir vor wie einer der Engel in Frank Capras Filmen, die auf die Erde herabsteigen, um einen aus dem Schlamassel zu befreien, und als ich ihm zuflüsterte, dass er mein Engel sei, lächelte er milde, klopfte mir aufs Knie und murmelte etwas Unverständliches - schon beim zweiten Glas hatte er eine schwere Zunge. »Und was für einen Eindruck hast du von Amerika?«, fragte er, während er sich ein weiteres Glas einschenkte.
    Von der Begeisterung für meine neue Heimat mitgerissen, erzählte ich ihm mit Verachtung vom Dorf - und Gott weiß, wie ich gelitten hatte, als ich es verließ, wie es mir zudem immer auf die Nerven gegangen war, wenn die Turist das getan hatten. Trotzdem missfiel mir die Art und Weise, wie er mich jetzt unterbrach und gönnerhaft kundtat: »Mag sein, aber die schönsten Tage meines Lebens habe ich dort verbracht. Verleugne niemals deine Wurzeln, Carlino, sie sind das Wichtigste, was wir haben.«

    ›In einem Monat oder früher noch wirst du merken, wie sehr du dich in deinen Wurzeln verheddert hast‹, hätte ich am liebsten geantwortet. Stattdessen sah ich ihn an. Er war jung, romantisch, amerikanisch. Vor allem aber war er mein rettender Engel, und daher nickte ich, als hätte er mir wer weiß was für eine Lektion über das Leben erteilt.
    Er ließ sich auf das Sofa plumpsen und fügte, ohne von der Flasche zu lassen, wie ein Erleuchteter hinzu: »Diese Berge, diese Musik, die sich aus dem Blau des Tales erhob …« Er hielt inne, um sich noch etwas nachzuschenken. »Nie habe ich ein solches Blau gesehen«, sagte er und stürzte das dritte Glas hinunter. »Es war, als wäre ich zum ersten Mal nach Hause gekommen, in mein wahres Zuhause. Am unglaublichsten aber ist, dass es auch für Jenny eine einzigartige Erfahrung war.«
    ›Das will ich wohl glauben, so, wie ich sie gevögelt habe‹, hörte ich eine Stimme in meinem Inneren sagen. In diesem »Inneren« hatte ich die ganze Bandbreite an Getränken, die eine Minibar im Zimmer eines Luxushotels enthalten kann, und jeder Drink sprach mit einer anderen Stimme. Diese aber erkannte ich sofort wieder: Es musste die arrogante Stimme des Cristal’68, des »Besten«, sein. Charles goss sich, von Nostalgie erfüllt, eine weitere Flûte hinter die Binde, und seine Lider wurden noch ein paar hundert Gramm schwerer. Er öffnete sie mühsam und lallte: »Hast du alles, was du für morgen brauchst … Oder möchtest du, dass ich den Schneider des Hotels vorbeischicke?«
    »Sei beruhigt, ich werde dir keine Schande machen. Ich habe genau den richtigen Anzug«, antwortete ich und erzählte ihm von der Koinzidenz unserer Hochzeiten.
    »Und du … bist zu der meinen gekommen?«, sagte er mit dem Ausdruck eines kleinen Jungen, der begeistert ist über die x-te Unternehmung seines liederlichen Freundes, dem er niemals wird nacheifern können.
    »Hätte ich sie denn versäumen sollen, diese Hochzeit des Jahrhunderts?«

    Er schüttelte sich vor Lachen. Das Problem war nur, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Ja, Charles war nicht nur jung, romantisch, amerikanisch und ein rettender Engel, sondern auch sturzbesoffen, aber als ich ihn schließlich wie einen Schwimmer nach einem Kopfsprung aus dem Wasser auftauchen sah, vergaß ich es wieder - denn auch ich war sternhagelvoll. So unternahm ich nichts, um ihn am Trinken zu hindern, streckte vielmehr mein Glas aus, und wir stießen aufs Neue an. Er bekleckerte sich das Kinn, hustete und stammelte mit plötzlich finsterer Miene: »Un-glaub-lich … Ich stelle mir gerade Tante Ilde vor … und deine Verlobte.«
    »Aus der habe ich mir nie was gemacht, und was Nonnilde anbelangt … Besser, gar nicht an sie denken«, aber während ich das sagte, vermeinte ich schon ihre gellenden Schreie zu hören - ein entsetzliches Echo, das über die ungeheure Weite des Ozeans hallte -, und ein Schauder durchfuhr meinen Körper. Ich kippte hinunter, was noch in meinem Glas war, und leerte gleich noch eines. Jetzt war ich wieder auf dem Damm. Aber das dauerte nicht lange. Eigentlich nur so lange, bis ich einen Moment später einen Blick auf ihn warf. Mit fahlem Gesicht, glasigen Augen und schlaffen Armen und Beinen sah er aus, als wäre seine nächste Station eher das Leichenschauhaus als der Traualtar. Mit letzter Kraft gelang es ihm zu wispern: »Un-glaub-lich«, dann ließ er den Kopf auf die Schulter fallen und

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