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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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zwischen den kleinen Gegenständen, die wie die Bälle eines aus dem Takt geratenen Jongleurs herumflogen, einen bläulichen Schatten wogen. Noch einmal wisperte ich: » Mammaaa «, und der Schatten hielt mitten in der Luft inne, drehte sich um sich selbst und nahm im allgegenwärtigen Dunst des Kondenswassers Gestalt an. Es war
tatsächlich meine Mutter. Sie hatte mich kaum angeblickt, da wurde sie von einem Klick des Mikrofons schon wieder ausgelöscht.
    Mir taten die Ohren weh, neben mir im Bullauge hatte ich den finsteren und offensichtlich eisigen Ozean, aber der Kapitän teilte uns über die Sprechanlage mit, dass es sich um ein einfaches Luftloch gehandelt habe. Bevor er uns mit äußerst irritierender Nonchalance einen guten Weiterflug wünschte, spezifizierte er noch unsere Position: mehr oder weniger dieselbe, bei der die Constellation meiner Eltern abgestürzt war. War auch dies nur ein Zufall? Oder war ich wirklich mit meiner armen verstorbenen Mutter in Kontakt getreten? Wenn ja - und zu dieser Überzeugung gelangte ich immer mehr -, dann hatte sie mich vielleicht nur dadurch gerettet, dass sie mich von diesem »Schwein« von Papà fernhielt. Ich war jedenfalls am Leben und hätte jubeln müssen; stattdessen brach mir dieser Gedanke das Herz und peinigte mein Hirn, und bald würde ich, das fühlte ich, darüber verrückt werden. Irgendein Psychiater würde meinen Fall als einen der vielen klassifizieren, wo jemand bei einem Unfall oder einem Massaker davongekommen war und infolge des erlittenen Schocks durchdrehte: Wie hätte man sonst das Geschehene rational erklären sollen? »Verdammte Scheiße«, keuchte eine Stimme. »Verdammt noch mal, beinah hätt es uns erwischt!«
    Die Stimme meines rüpelhaften Nachbarn. Ich wende den Kopf und sehe ihn an. Er trocknet sich mit einem grau umrandeten Taschentuch Schweiß und Tränen ab, und ihn so zu sehen, groß und massig und gleichzeitig lachend und weinend, ist wie ein wohltuendes Bad in der Realität.
    »Ich hätt mir vor Schiss beinah in die Hose gemacht … du auch, oder? Du bist ja ganz grün im Gesicht«, sagt er gleich darauf und vertraut mir an, dass es sein erster Flug sei.
    »Meiner auch«, antworte ich, plötzlich gesellig - besser die Freude, davongekommen zu sein, mit einem Armen im Geiste teilen als sich in düsteren übersinnlichen Meditationen verlieren. Ich frage ihn sogar, wo er herkommt.
    »New York City«, sagt er.

    »Wie bitte?«
    »New York City«, bekräftigt er stolz.
    »Aber ist es denn nicht das erste Mal, dass du im Flugzeug unterwegs bist?«, gebe ich zurück, unter anderem erstaunt über seinen Dialekt.
    »Ich hab’n Hinflug hinter mir, jetzt iss Rückflug, falls es gut geht … Und das iss meine erste Flugreise, wie sagt ihr gleich wieder? Viagg compleeeto «, grinst er und lacht glücklich.
    »Und in Amerika? Ich habe gelesen, dass man auch das Flugzeug nimmt, wenn man nur zum Tabakwarenhändler will.«
    »Ich rauche nicht.« Gewiss, schlagfertig ist er, und außerdem hat er einen Cadillac mitsamt Chauffeur, der ihn überallhin bringt. »Und ich schwör dir, in so’n Ding setz ich keinen Fuß mehr. Stell dir vor, ich bin nach Italien, weil ich’s dem heiligen Antonius von Padua versprochen hab. Der iss mein Lieblingsheiliger, wie sagt ihr gleich wieder? Mein Sant predileetto , und der hat mich noch nie im Stich gelassen. Los, trinken wir was … Aber auf meine Rechnung, damit das klar iss.«
    Er ruft die Stewardess, und während sie uns bedient, fängt er an, Faxen zu machen, und das Merkwürdigste ist, dass sie mitspielt. Irgendwann zieht er seine Visitenkarte aus einer Brieftasche, die so prall gefüllt ist, dass sie die Form einer Semmel hat, und streicht ihr beim Abschied über den Hintern. »Tolle Weiber, die Italienerinnen, ehrlich, Mann. Wenn ich mal heirate, kannst du Gift drauf nehmen, dass ich mir’ne Italienerin angle, das will auch meine Mamma … Ach, übrigens, tschuldige die Frage, aber wie zum Teufel kann man in Italien leben? Da iss doch alles so langsam.« Und er fängt zu erzählen an.
    Nach der ersten Station in Pontecagnano, seinem Heimatdorf, ist er nach Padua hinaufgefahren. Er hätte ein Auto mieten können, hat sich aber gedacht: »Mit’m Zug fährt sich’s ruhiger. Das einzig Schnelle, was ihr macht, iss Autofahren.« Zumal man bis Padua lange braucht, hat er sich gesagt: »Zwölf Stunden hat’s gedauert, verdammt noch mal. Und so isses mit allem: zu langsam. Du gehst
in’n Geschäft, und es

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