Ferne Verwandte
einen brüderlichen Freund um einen Gefallen bittet. Einen der unvergesslichsten Augenblicke seiner Rückkehr zu den Wurzeln - so er wortwörtlich - hatte ihm das von den Kirchtürmen verbreitete Ave Maria beschert, und er wollte, dass ich, sein soeben aus dem Land der Erinnerung eingetroffener
Organisten-Vetter, während der Trauung diesen Zauber wieder heraufbeschwor. Ich war also auch dieses Mal davongekommen, und während ich mir feierlich schwor, dass es kein weiteres Mal geben würde, fragte ich ihn: »Welches von den beiden denn?«
»Wieso, sind es denn zwei?«
»Ja, eines von Schubert und eines von Gounod« - Musik war eindeutig nicht seine Stärke.
»Richtig, richtig. Dann nehmen wir Schubert und Gounod … Du ahnst ja nicht, wie froh ich bin, dass du hier bist, mein liebes Vetterchen. Auch Jennifer ist überglücklich, dass du gekommen bist.«
Tja, Jennifer. Ich spielte schon, als sie erschien, und bei dem Gedanken daran, wie oft in der Nacht zuvor sie »gekommen« war - sie war so etwas wie eine multiorgastische Sexbombe, und amerikanischer Sex war das unwiderstehlichste Produkt der menschlichen Phantasie des zwanzigsten Jahrhunderts -, griff ich böse daneben. Es gelang mir jedoch, mich in einen swingenden Schlenker zu retten, der einen gewissen Eindruck machte, weil man als Musiker die Neigungen seiner Zuhörer erspüren muss, und ich befand mich schließlich im Heimatland des Jazz. Das war jedoch nichts im Vergleich zu dem Eindruck, den die Braut auf mich machte. Sie war auch von hinten eine Wucht - zarte Schultern, geteilt von einer tiefen, im tiefen Rückendekolleté gut sichtbaren Kluft, die von der ellenlangen Schleppe kaum verhüllt wurde -, und in diesem Augenblick lösten sich alle meine guten Vorsätze in Luft auf: Ich begehrte sie schon wieder, sofort, auf der Stelle. Nein , nein , dachte ich laut - so laut, dass der Sopranistinnenkoloss sich mit einem Ruck umwandte. Ich musste mich von Jennifer fernhalten. Und tatsächlich: Als ich zusammen mit anderen Gästen und einer kleinen Flotte von nach Nussbaum und Leder riechenden Limousinen beim Empfang eintraf und sie, ein wolkenverschleiertes Zwielicht in ihrem goldbesprühten Kleid, mir in den Armen lag, schob ich sie mir vom Leib. Leicht war das nicht. In dem Geheimnis, das wir miteinander teilten, lag ein unwiderstehlicher Reiz, aber ich fühlte, dass mir ein
großer Stein vom Herzen fiel und dass ich, da mich dieser Empfang trotz allem stolz machte - Jennifer hatte immerhin Gäste und Gemahl stehen lassen, um mir entgegenzulaufen und mich zu umarmen -, bereit war, meinen so lang ersehnten Einzug in die Gesellschaft zu meistern, selbst wenn mir inmitten jener anspruchsvollen Menge jetzt schon wieder die Knie zu schlackern anfingen und mir, um meiner Aufregung Herr zu werden, nichts anderes übrig blieb, als mich mit einem schönen Kelch Champagner - natürlich Cristal’68 - zu versorgen. Gewiss, ich hatte mir auch vorgenommen, keinen Tropfen mehr zu trinken, aber in diesem Augenblick hatte ich alles, was ich an Willenskraft aufbieten konnte, bereits aufgeboten.
Der Saal kam mir wie das Innere eines Theaters vor. In den mit Samt und Stuck geschmückten Logen standen Tische, und Tische gab es auch rund um das Parkett, das von baumartigen Kandelabern beleuchtet wurde, die ein vegetabiles Licht verbreiteten. Auf der niedrigen, breiten Bühne wob ein ganzes Streichorchester an seinem weichen Klangteppich, und über die Standards hinweg, die jeder kannte, säuselte ein crooner . Ich durchquerte andere, kleinere Säle, die durch weinumrankte Separees voneinander getrennt waren. Die Gäste wählten frei den Raum, in dem sie sich aufhalten wollten, und bedienten sich frei an den verschiedenen Büfetts oder setzten sich an die Tische, um von Kellnern bedient zu werden. Die Frauen trugen lange Roben, ließen ihre Juwelen funkeln und verströmten Wohlgerüche; die Männer waren im Smoking. Auf den ersten Blick stellte ich allerdings schon fest, in welch hohem Maße Eleganz selbst unter den Reichen Mangelware ist: eine banale Entdeckung - andererseits hatte ich noch nie so viele Reiche an einem Ort gesehen -, die aber dazu diente, meinen Arme-Verwandten-Komplex abzubauen. ›Wenn dies die bedeutenden Amerikaner sind‹, sagte ich mir, während ich mich in einem der allgegenwärtigen getönten Spiegel meiner eigenen Distinguiertheit vergewisserte, ›warum machst du dir dann Sorgen?‹ Ermutigt bummelte ich durch die bunte Vielfalt von Individuen, die
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