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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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sich zu Gruppen hinzugesellten oder welche verließen, Gläser von den glänzenden
Tabletts der Kellner nahmen oder leere darauf abstellten, und berauschte mich, sofern gegeben, an der Schönheit der Frauen, öfter jedoch daran, mich über die soeben entdeckte Vulgarität der auserwählten Klasse der mächtigsten Nation der Welt zu freuen. Ja, bald schon stellte ich, wie es für Provinzler auf Reisen typisch ist, gewisse Ähnlichkeiten fest.
    Allenthalben ist bekannt, dass jeder Mensch sieben Doppelgänger hat - zumindest wird das behauptet. Jedenfalls schien sich an jenem Abend und an jenem Ort ein Großteil der Doppelgänger meiner Mitdorfbewohner ein Stelldichein zu geben. Irgendwann befand ich mich jemandem gegenüber, der dem Original dermaßen ähnlich war, dass ich beinahe gefragt hätte: ›Was machst du denn hier?‹ Genau in diesem Moment nahm mich aber mein Vetter Charles am Arm und sagte: »Bravo, du hast fabelhaft gespielt, Carlino.« Ich antwortete, ohne den Blick von dem Doppelgänger zu wenden, und Charles lachte: »Ja, er ist es wirklich. Komm, ich stell ihn dir vor.«
    Als Schauspieler hatte er mir nie besonders gefallen, aber als ich ihn sah, hatte ich ihn doch glatt mit einem aus dem Dorf verwechselt, was bei der Begegnung mit Berühmtheiten durchaus geschehen kann - man hat sich genauso an sie gewöhnt wie an den Nachbarn von nebenan. Dies war eindeutig der Abend der außergewöhnlichen Erkenntnisse. Mein Vetter ließ mich noch viele berühmte und nicht berühmte Hände drücken. Frisch aus meinem primitiven Bergdorf hierherversetzt, aber auch dank der Hilfe des Cristal’68 bewegte ich mich locker zwischen den Gruppen hin und her und mischte mich mit der Unbefangenheit eines erfahrenen Weltmanns in die Gespräche ein, und als ein Strom von Gästen Charles mit sich fortriss und ich alleine weiternavigierte, machte ich noch eine Entdeckung: Alle begriffen sofort, dass ich soeben aus Italien eingetroffen war, doch statt mich - aufgrund unseres Rufs als Halunken, Hungerleider und Mafiosi - mit jener Zurückhaltung zu behandeln, die ich erwartet hatte, platzten sie vor Neugier. Die Frauen fragten mich über Mode, Kunst und Esskultur
aus - in New York war man zurzeit, wie es den Anschein hatte, auf Pizza scharf. Die Männer klopften mir auf die Schulter und hakten sich bei mir unter, und voller Wohlwollen ob meines jugendlichen Alters erzählten sie mir nostalgisch von ihrem schweren Start und ihrem erworbenen Vermögen: Es war der American Dream , von dem sie erzählten, und ihre Worte und ihre Ratschläge sog ich gierig auf. Ich wollte eilends lernen, was zu lernen war, auch wenn sie, kaum dass mein Name fiel, mit einem Lächeln sagten: »Na, dann bist du ein gemachter Mann, mein Sohn.« - »Für dich wird es leicht sein … Richard ist ein Ass.« - »Dein Onkel wird dich besser anleiten können als jeder andere.« Irgendwann sagte jemand: Cheese please , und ein Blitzlicht ließ mich für den Bruchteil einer Sekunde erstarren. Es war, als würde ich mich an der Stelle meines Vaters auf einem seiner amerikanischen Fotos wiedersehen: schön, lächelnd, elegant. ›Armer Papà, du bist nicht umsonst gestorben. Ich, dein Sohn Carlino, werde deinen Weg fortsetzen‹, dachte ich, ein pathetischer bis grotesker Gedanke, das gebe ich gerne zu, aber ich war so aufgeregt, begeistert und gerührt, dass ich mich anstrengen musste, um nicht loszuheulen. Ich stieß einen Seufzer aus, der mir sehr lang vorkam, zumal er ergänzt wurde durch einen Seufzer von Charles - ich hatte ihn wieder an meiner Seite -, der sich spürbar versteifte und murmelte: »Onkel Richard.«
    Auch ich erstarrte, als ich ihn sah - er hätte ihn mir nicht zu zeigen brauchen. Er stand zwischen einem halben Dutzend Gästen und war genauso, wie ich ihn aus dem alten Familienalbum in Erinnerung hatte: kurz geschnittene silberne Haare auf dem großen Kopf, der ihn seiner mittleren Statur zum Trotz imposant erscheinen ließ. Um mir Mut zu machen, nahm Charles mich am Arm, aber sein Griff suggerierte eher Unsicherheit, die ich dann auch in seiner Stimme wahrnahm, als er sich in einer Gesprächspause einklinkte und auf Amerikanisch sagte: »Großvater, das ist Carlo.«
    Er wandte sich mir einen Augenblick zu, gerade lange genug, um mich zu fixieren und zum Zeichen des Grußes das Kinn anzuheben. Dann drehte er sich wieder seinen Gästen zu, und ich blieb
stocksteif stehen, ohne zu wissen, wo ich meine Hände lassen sollte - selbst das Atmen kam

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