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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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mir nicht mehr wie eine normale Angelegenheit vor. Plötzlich war mir meine ganze Unternehmungslust vergangen, und als ich merkte, dass Charles verschwunden war, wäre ich am liebsten davongelaufen. Doch an diesem Abend entschied sich meine Zukunft, und darum würde ich mit Zähnen und Klauen kämpfen. Ich musste ihn mir unbedingt schnappen, meinen Vetter; er war wirklich ein Phantast, wenn er glaubte, mich nach all den Versprechungen einfach so im Stich lassen zu können. Ich schaute mich um und sah ihn nicht weit von mir Hände schütteln und mit dem Gesicht eines Mannes, der soeben einer Gefahr entronnen war, in die Runde lächeln. Ich war beinahe bei ihm angelangt, als ich diese Stimme hörte.
    Sie erinnerte an das Blubbern in einer verstopften Leitung, doch es handelte sich um die Stimme von Onkel Richard. Auch er war allein zurückgeblieben und fragte mich jetzt Sachen, die man in einer solchen Situation fragt - ob ich eine gute Reise gehabt hätte, ob der Chauffeur pünktlich gewesen sei, ob mir das Hotel behage - aber in einem so reinen, schleppenden und obskuren New Yorker Akzent, dass er sich, obwohl er bemüht war, sich das nicht anmerken zu lassen, wunderte, dass ich ihm überhaupt antwortete. Dann - unser Gespräch hatte höchstens ein paar Minuten gedauert - schenkte er mir ein Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, und sagte zum Abschied: »Gut, dann danke, dass du gekommen bist, und viel Glück.«
    ›Viel Glück? Was heißt hier viel Glück ? Ist das vielleicht eine Art, mich willkommen zu heißen, den Sohn deines Neffen Enrico, der mich, um an deiner Seite zu sein, verlassen hat, mich, der ich noch gar nicht geboren war, und der dann irgendwann, ebenfalls deinetwegen, zusammen mit meiner angebeteten Mamma das Zeitliche gesegnet hat? Das soll nun die Entschädigung sein für den ganzen Schmerz, den ich erlitten habe, und das, nachdem ich jahrelang von nichts anderem geträumt habe, als mit dir zusammenzukommen? Aber dann hat Nonnilde ja wirklich recht damit, dass du ein
Scheißkerl bist, Onkel Richard‹, dachte ich. Das, was ich am meisten befürchtet hatte, war passiert, und nur, um mich auf diese Weise behandeln zu lassen, hatte ich mein Leben ruiniert! Zuvor hatte ich wenigstens eine Zukunft gehabt, gewiss keine strahlende, aber doch eine sichere. Und was zum Teufel hatte ich jetzt? Wo würde ich hingehen? Was würde ich tun? Als Allererstes würde ich meinem Vetter Charles den Hals umdrehen, und ich machte mich wie eine Furie auf den Weg, um nach ihm zu suchen, aber kaum hatte ich mir den Weg durch die Menge gebahnt und den zweiten Saal durchquert, da war meine Wut schon verraucht.
    Es ist möglich, dass ich weinte, als ich das nächste Büfett ansteuerte - ich war dermaßen verwirrt, dass ich mich nicht mehr daran erinnere. Ich riss einem Kellner eine Champagnerflasche aus der Hand - Cristal’68, »den Besten«, den, an den ich mich würde gewöhnen müssen und den ich nun zum letzten Mal trank - und goss mir ein Glas nach dem anderen hinter die Binde. Ich befand mich im idealen Zustand, um zu begreifen, welch Gottesgeschenk der Alkohol doch war, und bald vollzog ich eine Wendung vom tiefsten Unglück zur fügsamen Resignation, um gleich darauf meine Angelegenheit aus einer unbestimmten Ferne zu betrachten - aus einer Art buddhistischem Nirwana, vermute ich mal. Noch ein paar Schlucke, und schon fand ich die ganze Sache komisch: meine schmerzensreiche Abreise als Emigrant, meinen Vetter Charles, dem in meinem Zimmer Schaum vor den Mund tritt, mich, der ich in seinem Zimmer mit Jenny ficke, Onkel Richard, der mir viel Glück wünscht, Alba Chiara, die in der Zwischenzeit in ihrem Brautkleid verzweifelt … Ich kicherte in mich hinein und stellte mir die Betretenheit ihres Vaters und ihrer Mutter vor und den Aufruhr unter den Gästen - trotz des alkoholischen Nirwanas sah ich über Nonnildes Reaktion hinweg. Mir fielen andere Hochzeiten im Dorf ein, die auf ähnliche Weise geplatzt waren. Die Flüchtenden waren in der Regel die Männer gewesen, und meistens hatten sie sich an irgendeinem Baum aufgeknüpft - wegen Impotenz: Der auf die Hochzeitsnacht folgenden Schmach hatten sie den Tod
vorgezogen, das wurde zumindest behauptet. Jetzt, da ich darüber nachdachte, fielen mir auch weniger tragische Fälle ein: vorübergehender Gedächtnisverlust, Autounfälle, unvorhergesehene Einlieferungen ins Krankenhaus wegen Vergiftung, gewaltige Besäufnisse im Rahmen des

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