Ferne Verwandte
Junggesellenabschieds. Und in Anbetracht der Mengen, die ich gerade trank, kam mir blitzartig ein Gedanke: Wer könnte mir ein Attest über einen akuten Rauschzustand verweigern? Man verweigert doch niemandem ein Attest, oder? Zumal ich verschwunden war, ohne mich jemandem anzuvertrauen, ja sogar, ohne irgendjemandem eine Nachricht zu hinterlassen. Hauptsache war, sofort nach Italien zurückzukehren, sagte ich mir seufzend … Aber nicht jetzt. Jetzt fehlte mir die Kraft dazu. Ich riss mir eine weitere Flasche Cristal unter den Nagel, entschlossen, trotz der bereits gekippten Mengen endlich seinen für mich noch immer geheimnisvollen Wert zu entdecken - dann hätte ich wenigstens etwas dazugelernt -, und war gerade im Begriff, mir das x-te Glas einzuschenken, als eine Stimme auf Amerikanisch sagte: »Schenk mir auch was ein, oder beabsichtigst du, sie allein zu leeren?«
Sobald ich mich umgedreht hatte und die blonde Yankeegöttin sah, die das Wort an mich gerichtet hatte, begriff ich schlagartig zwei Dinge: dass sie die Schwester von Jennifer war und außerdem die Frau, von der ich immer geträumt hatte. Ich führte die Flasche an ihr Glas heran, betört wie von einer Erscheinung. Ihr Blick war von atemberaubender Starre - sie wirkte irgendwie »erledigt«, als hätte irgendjemand sie soeben erledigt -, doch ohne den Ausdruck eines gehetzten Hirschkalbs, wie er unter den jungen Schönheiten üblich war. Das Kleid, das sie trug - ein Hängerchen aus wahren Seidenkaskaden -, passte nicht unbedingt zu ihrem Typ, aber der Körper, der darin steckte, hätte jeden Modeschöpfer herausgefordert. Sie war groß gewachsen und muskulös, aber schlank und biegsam, ihre Wangenknochen waren exotisch markant, ihre glatte Haut sonnengebräunt. Sie war das gelungenste Beispiel einer unbekümmerten Durchmischung der Rassen. Um den Hals trug sie ein
Band aus indianischen Steinen mit einem walnussgroßen Smaragd in der Mitte, der das mystische Grün ihrer Augen und das Honigblond ihrer Haare erstrahlen ließ.
»Halt … Das ist genug«, raunte sie mir zu. Kichernd führte sie das Glas, das ich unvorsichtigerweise bis zum Rand gefüllt hatte, an die Lippen, und nach dem ersten Schluck hob sie den Blick und sagte: »Warst du nicht der, der in der Kirche gespielt hat?«
»Doch, ja … das heißt: Das war ich«, antwortete ich, vollkommen betäubt von ihrem Glanz - vom Übrigen mal ganz abgesehen.
»Dieses Stück, das letzte … Das war doch Air , oder?«
Als die Brautleute durch die Gästeschar hindurchdefiliert waren, hatte ich es gespielt und die Register gewählt, die dem Harmonium am ähnlichsten waren; es war so leicht, so romantisch und eben so »luftig«, dass es mir für das Ende der Zeremonie am geeignetsten erschienen war, und nachdem ich es bestätigt hatte, verfiel ich in Schweigen. Sie legte mir eine Hand auf den Arm. Mit großer Natürlichkeit streichelte sie meinen Ärmel. Die Vertraulichkeit dieser Geste überwältigte mich.
»Schöner Stoff«, stellte sie dann seltsamerweise fest.
Ich berührte sie auch, und zwar an der Hüfte. »Aber deiner ist weicher«, sagte ich wie ein Einfaltspinsel.
»Aus Italien?«
»Hundertprozentig«, antwortete ich, weil ich dachte, sie meinte den Anzug, aber sie hatte sich offenkundig auf mich bezogen und lachte nun über den entschiedenen Tonfall meiner Antwort. Danach sahen wir uns an wie zwei Tiere, die, angetrieben von einem unbekannten Impuls, eine unendlich weite Strecke zurückgelegt hatten und erst jetzt, da sie einander schweigend gegenüberstanden, den Grund ihrer Wanderung begriffen. In diesem Moment hätte alles passieren können. Was wirklich passierte, war, dass Charles daherkam.
»Ach, da bist du ja!«, sagte er, und an den Engel neben mir gewandt: »Mein Vetter Carlino.«
Ich hasste ihn. Er hatte nicht nur den Zauber zerstört und zuvor mein Leben ruiniert, jetzt musste er mich auch noch Carlino nennen!
»Das ist Cybill, Jennifers Schwester«, setzte er hinzu. Aber selbst ihm fiel auf, dass wir uns unverwandt anblickten. »Wie es aussieht, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht«, bemerkte er und griff nach einer Flasche. Dann stellte er sie schnell wieder auf den Tisch zurück und sagte: »Ich hatte dich ganz aus den Augen verloren, mein Liebling.«
Soeben war nämlich Jennifer neben Cybill aufgetaucht und musterte mich übellaunig. Meine Kälte vorhin hatte ihr wohl nicht gefallen, und noch weniger gefiel es ihr, dass ich mit ihrer Schwester turtelte.
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