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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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schon deswegen davongelaufen wäre - aber wohin?
    Bei Cybill und Charles hatte ich tausendmal angerufen, ohne ihnen auf die Spur zu kommen. Vor allem jedoch hatte ich andere
und tragische Telefonate mit meinem Dorf getätigt. Da bei mir zu Hause niemand abnahm, versuchte ich es in der Bar Rosetta, in der Pension Miramonti und im Rathaus, wo mich endlich eine brüchige Stimme, sobald sie von meinem Anliegen hörte, warten hieß. Ein Mühlstein legte sich auf mein Herz, als mir eine andere Stimme mitteilte, dass meine Großmutter, Tante Ines und Onkel Teodorino leider unter den Trümmern »umgekommen« seien. »Und du, wer bist du?«, wurde ich gefragt, als ich in Schluchzen ausbrach.
    Am anderen Ende der Leitung war Adolfino, der Bandleader der Misantropi und Knirps-Onkel meines Freundes Rino. Er hatte wirklich das Zeug zum Chef, keine Frage - so jung und schon Bürgermeister!
    »Tatsache ist, dass hier fast alle tot sind«, informierte er mich, nachdem er mir, wie es sich gehörte, sein Beileid ausgesprochen hatte. Dann fuhr er fort: »Aber man muss ans Leben denken. Ja, das iss’ne schreckliche Tragödie gewesen,’ne Hekatombe, aber so’n Schaden hat ja auch sein Gutes. Hier werden die Lire demnächst milliardenweise regnen, und nicht nur für den Wiederaufbau. Es iss schon die Rede von Zuschüssen für die Industrie, und du, du hast ja schon’ne Industrie … Carlì, ich weiß, dass es dir in Amerika nicht gut gegangen iss, aber das iss vorbei. Mit dem Haufen Geld, das du für die Ölfabrik kriegst, kannst du dich erholen … Wir werden sicher handelseinig, du verstehst schon, was ich meine, oder? Ich geb dir das Doppelte vom Zuschuss.« Die letzten Worte hauchte er fast, um mich dann laut anzufeuern: »Komm zurück, Carlì … Hör auf’n Rat von’nem Freund: Das iss deine große Chance. Also, kommst du wieder? He, Carlì? Was sagst du dazu?«
    »Leck mich am Arsch, sag ich dazu, Adolfì«, und legte auf.
    Danach weinte ich ganze Tage lang. Ich weinte um Tante Ines - wie lieb sie mich gehabt hatte, diese Frau! -, um Onkel Teodorino, um alle Toten unseres Dorfes und um noch mehr, denn als ich die amtliche Liste des Konsulats durchging, blieben mir ohne die Spitznamen immer noch Zweifel an ihrer tatsächlichen Identität. Schließlich aber las ich die dem tragischen Ereignis gewidmete Ausgabe
der Contrada soprana , die ich zum Glück, ebenfalls im Konsulat, zwischen einer Unmenge ähnlicher Publikationen gefunden hatte. Sie war fast ausschließlich von meinem Meister Sabino Corelli verfasst worden - er gehörte glücklicherweise zu den Überlebenden -, der sich nach einer gelehrten Abhandlung über die Geschichte der Erdbeben in unserer Gegend seit den Zeiten Plinius’ des Älteren - Lucania saepe tremuit sed sine damno - bei der Schilderung der unheilvollen Auswirkungen dieses letzten Bebens zu Anflügen echten Pathos hinreißen ließ - Nie wieder werde ich die alten Gemäuer sehen / nie wieder die Glocken zur Vesper läuten hören / die heil’gen Lieder, wie sie durch die klaren Lüfte schwingen -, um schließlich eine Liste der Toten und Überlebenden anzufügen. Diese war, der Tradition der Zeitschrift entsprechend, mit den Spitznamen versehen, was es mir ermöglichte, Gewissheit darüber zu gewinnen, dass meine Exfreundin, Incoronata di Torrediluna - es gab ein halbes Dutzend andere mit dem Namen Incoronata Campochiaro -, im Gegensatz zu ihrer Schwester Concetta und Torrediluna persönlich, überlebt hatte, wenngleich als Witwe von Titino Darsena, der vom Campanile zermalmt worden war. Imma und ihre fünf Kinder, nein. Der Patriarch hatte absurderweise überlebt - er war mit seinem Rollstuhl an der einzigen Stelle des Hauses, die der Erschütterung standgehalten hatte, eingeklemmt gewesen. Medoro, der kurz zuvor aus dem Irrenhaus entlassen worden war, nein. Motte, Rinos Onkel, nein. Der Apotheker und seine Frau waren dem Schicksal, meine Schwiegereltern zu werden, entgangen, nicht aber dem Erdbeben. Alba Chiara, ja - sie war in der Zwischenzeit endgültig nach Florenz gezogen. Überlebt hatte auch Pits Familie - wer weiß, ob Fausto in diesen grauenhaften Momenten nicht von seinem Mutismus geheilt wurde und geschrien hatte? Wer weiß, wo Pit war und ob er davon erfahren hat? Francufort, ja, er auch - er hatte mit seiner »starken Muskulatur« einen Stützbalken gestemmt und so seiner jungen Frau und den beiden Sprösslingen das Leben gerettet. Fusacchio mit der gesamten Dorfkapelle, nein - sie waren

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