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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Träume. Es war, als wäre ich wieder ein Kind, als wäre ich zurückgekehrt in mein Leben von damals, in das Haus der Großmutter. Die Erste, die mir erschien, war meine
Mutter, aber sie war wenig mehr als ein Hauch himmelblauer Luft. Sie flatterte um mich herum mit dem rätselhaften Lächeln, das sie im Flugzeug gehabt hatte, und entschwebte singend in die Sphären. Mit dem Rest der Familie führte ich Gespräche. Ich unterhielt mich mit meinen Tanten, stritt mich mit meinen Cousinen - um ein Spielzeug etwa, auch wenn es sich, noch während wir es uns streitig machten, in einen stinkenden Fetzen verwandelte oder in Gestalt einer Taube davonflog. Nonnilde hörte ich vor allem zu, aber mit liebevollem Herzen - sie hatte stets mein Bestes gewollt, das war mir inzwischen klar, obwohl ich einmal - oder hatte ich mir das nur eingebildet? - in eine Telefonzelle getorkelt war und sie angefleht hatte: »Großmutter, ich bin’s, Carlino … Ich sterbe, hilf mir, ich bitte dich«, und zur Antwort nur ein schreckliches Gebrüll erhalten hatte. Ihre Schreie waren mir durch Mark und Bein gegangen. Sollte sie meinetwegen schreien - nach dem ganzen Ärger, den ich ihr bereitet hatte, war damit zu rechnen gewesen -, aber der Lärm und das Getöse, das darauf gefolgt waren, so etwas wie ein brutales, chaotisches Schlagzeugsolo, darauf hatte ich mir wirklich keinen Reim machen können. Trotzdem hatte ich mich gleich danach, als wäre nichts gewesen, wieder an die Flasche gehängt. In meinen Träumen passierten ja immer die seltsamsten Dinge, und die schönsten Träume begannen mich um Weihnachten herum heimzusuchen.
    New York wird dann wunderschön, und die New Yorker sind noch freigebiger. Ich brauchte mir nicht einmal mehr die Mühe zu machen, die Hand auszustrecken: Wenn ich aufwachte, war meine Schachtel mit raschelnden Banknoten gefüllt. Trotz der Kälte verwandelten sich die endlosen Lichterketten, die überall leuchteten, in die Lämpchen jenes längst vergangenen Sommers mit Pit, und während ich jede Minute unserer kleinen Abenteuer neu erlebte und über seine Witze in mich hineinlachte, als würde ich in diesem Augenblick tatsächlich seine Stimme hören, fühlte ich mich glücklich - ich, der Obdachlose, den die mit bunten Päckchen beladenen Paare mit Abscheu oder Mitleid betrachteten. Pit aber war noch
derselbe: groß, blond und schon eine Legende, und das Leben war ein wunderbares Versprechen.
    Doch plötzlich wurde die Kälte eisig. Um mich zu schützen, kuschelte ich mich in ein sargähnliches Gehäuse aus Kartons und alten Zeitungen, und eines Abends las ich im Sargdeckel: »Katastrophales Erdbeben in Süditalien: Ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht«. Der Name meines Dorfes stand ganz oben auf der Liste. Ein paar Sekunden war ich starr vor Schreck, dann war es, als wischte ein nasses Tuch über die trübe Oberfläche meines Gehirns, und ich hörte das Lärmen am Telefon wieder. Das war es gewesen! Deshalb also hatte Nonnilde mir, statt Trost zu spenden, das Trommelfell zum Platzen gebracht. Wie eine Feder schnellte ich hoch. Ich musste wissen, ob mein armes Großmütterchen noch am Leben war. Aber ich war eine vom Rost angefressene Feder und fiel vollkommen erschöpft auf das Pflaster - mit dem Gesicht auf das Pflaster - und blieb entkräftet dort liegen, während die Leute um mich herum weitereilten. Männerschuhe, Frauenschuhe. Kinderschuhchen. Kinderstimmen, die sich wie Vogelgeschrei in der milchigen Luft fortpflanzten. Ich sah eine ganze Menge Kinder hervorquellen. Sie kamen aus der Schule gerannt - aus der Klosterschule. Ich erkannte Rino, Apache, Tarcisio, den armen Schweizer, mich selbst in meinem abgetragenen Mäntelchen, und viele andere, alle anderen, und in diesem Augenblick brach auch der Himmel in Tränen aus. Sanfte, große, weiche, kalte, leichte Tränen. Bald versank ich im Schnee. Nur noch ein Weilchen, und ich würde tot sein. Ich wollte sterben. Alles, was einmal gewesen war, hatte sich für immer aufgelöst; verschwunden waren jene, die ich gekannt hatte, verblichen jeder Winkel meiner Erinnerungen, mein Leben selbst auf einen düsteren Wirbel von nichts reduziert, und die Reue quälte mich so sehr, als wäre ich es, der durch seinen Tod alles ausgelöscht hätte. Dann trat fauliger grüner Schaum aus meinem Mund, und ich begriff, dass mein letztes Stündchen geschlagen hatte. Ganz sicher war ich mir, als ich die heilige Barbara mit ihrer spitzen Hand vor mir auftauchen sah.

    Trotz der

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