Ferne Verwandte
noch geknickt.
»Lass das mal meine Sorge sein«, richtet Pit ihn wieder auf. Er schiebt eine Hand in die Tasche seiner absichtsvoll ausgeblichenen Jeans und zieht die Autoschlüssel heraus. Mit affektiertem Ton sagt er zu mir: »Geh und hol mal unsre Platten, Tscharlz.«
Schweren Herzens gehorche ich, und während ich den Waldpfad entlanglaufe, wird es, je weiter ich mich entferne, umso dunkler - mir ist, als würde ich durch einen dieser verwunschenen Märchenwälder gehen. Aber hätte ich Pit etwa sagen sollen, dass ich mich vor Ungeheuern fürchte? Mir jagen noch immer Schauder über den Rücken, als wir mit dem rustikalen Barkeeper zu dem nicht minder rustikalen Discjockey gehen, der den ersten Schlager auf den Plattenteller legt - denselben, den wir auf dem Weg hierher im Auto gehört haben. Pit schnappt sich Silvia und führt sie auf die Tanzfläche. Sie tanzen vorzüglich. Sie sehen aus wie Brigitte Bardot und Gunther Sachs auf einem Foto, das ich ein paar Jahre später sehen sollte, ein Foto, das in Saint-Tropez aufgenommen wurde, und obwohl hier wenig an Saint-Tropez erinnert, legt sich das Bauernvolk trotzdem ins Zeug; sie schrauben sich hinunter bis zum Boden, wie sie es im Fernsehen gesehen haben, und auch die Mütter/Tanten sind zufrieden, weil bei diesem neuen Tanz ihre Töchter/Nichten nun wirklich absolut unberührt bleiben. Die beiden
tanzen lange weiter, bis ich sehe, dass Silvia auf die Uhr schaut. Zu dritt gehen wir zum Parkplatz. Jetzt hat Pit tatsächlich den Arm um sie geschlungen. Ich spüre, dass mir etwas über der Schulter baumelt - die Autoschlüssel -, und höre den Normannen sagen: »Warte auf uns.«
Es ist Sommer - in welchem Jahr, erinnere ich mich nicht genau. Ich entsinne mich nur, dass mir in dieser Augustnacht alles wunderbar vorkam: die Lieder, die vom Tanzlokal im Wald herüberwehten, die Lichter zwischen den Bäumen, die Luft, die nach Pinien duftete - selbst hier, wo es gewöhnlich nach Kuhstall stinkt. Ich lese der Reihe nach die Namen auf der psychedelischen Scheibe, die an der Windschutzscheibe klebt. Es sind Hunderte, und auf einem Pfeil steht: I love . Aufgrund meiner jüngsten Studien weiß ich, dass das »Ich liebe« heißt. Ich drehe den Pfeil auf »Silvia«, höre, wie sie draußen kichert, und betrachte sie durch das Autofenster: Wenn sie mich trifft, gibt sie mir, wie gesagt, immer diese Riesenküsse, und die sind fast so riesig wie die, die sie jetzt Pit gibt. Eigentlich sollte ich eifersüchtig sein, aber ich bin so glücklich. Nur als sie mich etwas später fragend ansieht, weil Pit sich einen seiner Buschblättertorpedos dreht, werde ich ein wenig böse: Hätte das nicht ein Geheimnis zwischen ihm und mir bleiben sollen? Nachdem wir ihn aber herumgereicht haben, füllt sich der Wagen mit unserem Gelächter und mit dem Wind, der uns die Haare zerzaust, und wir fühlen uns so wohl, dass wir bis nach Amerika fahren könnten, um dort glücklich zu sein. Kurz vor dem Dorf hält Pit an. Er steigt aus und zündet sich eine normale Zigarette an, nachdenklich. Sie geht auf ihn zu. Er küsst sie. Ich begleite Silvia nach Hause.
Ich holte sie an weiteren vier oder fünf Abenden ab. Wir rauchten zusammen eine Blätterzigarre, und dann ließen sie mich im Auto sitzen und kamen jedes Mal später zurück. Nicht dass ich mich gelangweilt hätte!
Ich warte und träume zu der Musik, die sich mit dem Gesang der Zikaden mischt. Ich betrachte die Berge unter dem Mond, die Sternschnuppen, die den Himmel mit Streifen wie von bengalischem
Feuer durchziehen, doch Pit ist, seit er Silvia begegnet ist, nicht mehr derselbe. Er ist immer melancholisch und hört sich nur noch traurige Lieder an. Vormittags gehen wir auch nicht mehr in die Bar. Ein paarmal nimmt er mich noch zum Fluss mit, doch wenn Dolores ihm aus dem Fenster etwas zuruft, tut er, als würde er sie nicht bemerken. Kurzum, er scheint tatsächlich ein anderer zu sein. Bis ich nach etwa einer Woche vom Bett aus ein vertrautes Hupen höre. Ich renne zur Terrasse und sehe Onkel Erminios Lastwagen und dann Onkel Erminio, der aussteigt und mit Genuario herumgestikuliert: Mir ist sofort klar, dass irgendetwas nicht stimmt, noch bevor er in unser Zimmer unter dem Dach tritt. »Warum musst du nur immer Probleme machen?«, fragt er kopfschüttelnd. Ich starre an die Wand, während er meine Sachen in den Koffer wirft. Dann zerrt er mich die Treppe hinunter. Kaum draußen, stemme ich die Füße in den Boden, fange zu plärren an,
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