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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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im Begriff, vorzeitig in jenes schreckliche Lebensalter einzutreten, das als Adoleszenz bekannt ist und in dem es uns so vorkommt, als hätten wir die ganze Welt gegen uns, und in meinem Fall handelte es sich leider um viel mehr als nur einen einfachen Gemütszustand. Bald sollte ich mich sogar nach der Isolierung zurücksehnen, zu der man mich verurteilt hatte. Nach allem, was ich angestellt hatte, war Nonnilde tatsächlich zu der Überzeugung gelangt, dass sie mich unter ihre strikte persönliche Kontrolle bringen müsse. Neuerdings fiel sie oft blitzartig in mein Zimmer ein, und dann musste ich sie zur Ölmühle, zu einem Pächter, in eines der Lager der Firma Olii Superfini oder einfach nur zu ihrer Friseurin begleiten. Ich wurde ihr ständiger Begleiter oder, genauer gesagt, ihr Sklave.
    In jener Zeit erzählte sie mir all das, was ich über meine Familie weiß, auch alles darüber, wie sie das Leben der einzelnen Familienmitglieder und insbesondere das meines Vaters ruiniert hatte. Wenn sie die ganze Liste ihrer Tricks aufzählte - die Kniffe, die sie sich ausdachte, um bei anderen ihre Willkürmaßnahmen durchzusetzen, und die mir, der ich die kindliche Unschuld mittlerweile verloren hatte, wie das vorkamen, was sie tatsächlich waren: regelrechte Gemeinheiten -, sah sie mich triumphierend an. In meinem Blick suchte sie vergeblich nach Beifall, weil ich mir vollauf bewusst war, dass sie mir im passenden Moment dieselbe Behandlung angedeihen lassen würde. Ich verbrachte ganze Tage damit, mir ihr ressentimentgeladenes Geschwätz gegen das gesamte Universum anzuhören. »Die Männer, vergiss das nicht, sind wie Vieh. Aber die Frauen stehen ihnen in nichts nach. Und das größte Schwein trägt am Ende den Sieg davon. Pass doch auf, du blöde Kuh«, herrschte sie das arme Mädchen an, das versuchte, ihre Raubtiermähne zu entwirren. »Du darfst nie etwas für selbstverständlich ansehen, bis
auf eines: Gibst du jemandem den kleinen Finger, grapscht er sofort nach der ganzen Hand. Trau keinem, nicht einmal deinem Bruder, abgesehen davon, dass du gar keinen Bruder hast, aber trau auch deinen Cousinen nicht, trau keinem … auch nicht deinem besten Freund, denn was ist schon Freundschaft? Ohne Interesse gibt es auf Dauer keine Freundschaft.«

    Dann fing die Schule wieder an. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich mit solcher Ungeduld auf diesen Tag warten würde. Die Blätter an den Bäumen färbten sich gelb. Die Landschaft hüllte sich in eine Nebeldecke. Die Schwalben verschwanden vom Himmel, der sich mit Scharen hungriger Spatzen bevölkerte. Kaum war ich am Morgen wach, blickte ich ins Tal, auf das Haus mit der ausgeblichenen rosa Farbe und auf die Strandkabine etwas weiter oben, die trotz des Nebelmeers einfach nicht dorthin passen wollte. Ich zog mich an, schlüpfte in meine schwarze Kittelschürze, legte mir den harten Kunststoffkragen um den Hals, die blaue Schleife, deren Spitzen abgesengt waren, damit das Band nicht ausfranste, und durchquerte in meinem abgetragenen Mäntelchen das Dorf. Am Belvedere legte ich eine Pause ein. Gerührt seufzte ich bei der Erinnerung an jene unvergessliche Augustnacht. Und im kalten Klassenzimmer des Klosters, in dem wir untergebracht waren, fühlte ich mich endlich vor der Welt - genauer gesagt, vor meiner Großmutter - in Sicherheit.
    Eines Nachts aber brach die Decke dieser Stätte meiner Weltflucht ein. Was für ein Glück, dachten wir, dass es ausgerechnet in der Nacht passiert war. In der nächsten Sonntagsmesse erfuhren wir jedoch von Don Silvestro, dass es unser barmherziger Herrgott gewesen war, der uns nicht in einen wurmstichigen Brei hatte verwandeln wollen, wie er es mit so vielen anderen Kindern getan hatte, mit Hilfe von Erdbeben, Wirbelstürmen und diversen anderen Katastrophen nämlich, deren Schilderung der noch mehr als sonst geifernde Don Silvestro mit einer Fülle makabrer Einzelheiten spickte. Ein Menetekel wegen unserer Sünden und vor allem wegen
der unserer Eltern - sofern wir welche hatten -, denen niemand garantieren konnte, dass nicht doch noch ein wirkliches Unglück folgen würde. Die männlichen Gläubigen legten sich eine Hand auf den Hosenschlitz - eine Geste, die ich noch nicht verstand, die am Ende seiner Predigten aber einfach dazugehörte.
    Wenn er nicht gerade am Altar das Messopfer zelebrierte, war Don Silvestro eine gute Haut, ein barmherziger Hirte seiner Herde, der freigebig tröstende Worte spendete. Sobald er aber auf der Kanzel

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